Entscheidungsstichwort (Thema)
ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HIGH COURT – IRLAND. FREIER DIENSTLEISTUNGSVERKEHR – VERBOT DER VERBREITUNG VON INFORMATIONEN UEBER KLINIKEN, DIE IN ANDEREN MITGLIEDSTAATEN SCHWANGERSCHAFTSABBRUECHE VORNEHMEN. 1. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofes – Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung in bezug auf ein beim vorlegenden Gericht anhängiges Verfahren – Voraussetzung für die Ausübung der Vorlagebefugnis – Fortbestehen der Zuständigkeit des Gerichts (EWG-Vertrag, Artikel 177). 2. Freier Dienstleistungsverkehr – Dienstleistungen – Begriff – Ärztlicher Schwangerschaftsabbruch – Einbeziehung (EWG-Vertrag, Artikel 60). 3. Freier Dienstleistungsverkehr – Dienstleistungen – Begriff – Nichtwirtschaftliche Tätigkeit – Ausschluß – Von einem Mitgliedstaat, der den ärztlichen Schwangerschaftsabbruch verbietet, ausgesprochenes Verbot der Verbreitung von Informationen über die Möglichkeiten, zu diesem Zweck auf Leistungserbringer zurückzugreifen, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat rechtmässig ausüben – Verbreitung durch eine Vereinigung ohne Verbindung mit den Leistungserbringern – Nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstossendes Verbot (EWG-Vertrag, Artikel 59 und 60)
Leitsatz (amtlich)
1. Die nationalen Gerichte sind nur dann befugt, den Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag anzurufen, wenn ein Rechtsstreit bei ihnen anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung zu erlassen haben, bei der die Vorabentscheidung Berücksichtigung finden kann. Daraus folgt, daß der Gerichtshof nicht für die Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens zuständig ist, das zu einem Zeitpunkt ergeht, zu dem das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht bereits abgeschlossen ist.
2. Der ärztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates vorgenommen wird, in dem er stattfindet, ist eine Dienstleistung im Sinne von Artikel 60 EWG-Vertrag.
3. Nicht als eine Dienstleistung im Sinne von Artikel 60 EWG-Vertrag ist die Verbreitung von Informationen über eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen, wenn diese Informationen nicht im Auftrag eines Wirtschaftsteilnehmers verbreitet werden, sondern lediglich eine Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit darstellen.
Einem Mitgliedstaat, in dem der ärztliche Schwangerschaftsabbruch untersagt ist, ist es nach dem Gemeinschaftsrecht daher nicht verwehrt, Studentenvereinigungen die Verbreitung von Informationen über den Namen und die Adresse von Kliniken in einem anderen Mitgliedstaat, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal praktiziert werden, sowie über Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit solchen Kliniken zu verbieten, wenn die Verbreitung dieser Informationen in keiner Weise von den betreffenden Kliniken ausgeht.
Normenkette
EWGVtr Art. 177, 60, 59
Beteiligte
The Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd |
Stephen Grogan und andere |
Tenor
1) Der ärztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates vorgenommen wird, in dem er stattfindet, stellt eine Dienstleistung im Sinne von Artikel 60 EWG-Vertrag dar.
2) Einem Mitgliedstaat, in dem der ärztliche Schwangerschaftsabbruch untersagt ist, ist es nach dem Gemeinschaftsrecht nicht verwehrt, Studentenvereinigungen die Verbreitung von Informationen über den Namen und die Adresse von Kliniken in einem anderen Mitgliedstaat, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal praktiziert werden, sowie über Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit solchen Kliniken zu verbieten, wenn die Verbreitung dieser Informationen in keiner Weise von den betreffenden Kliniken ausgeht.
Gründe
1 Der irische High Court hat mit Beschluß vom 5. März 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Artikels 60 EWG-Vertrag, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd (nachstehend: SPUC) und Stephen Grogan sowie vierzehn weiteren Vorstandsmitgliedern von Studentenvereinigungen wegen der in Irland erfolgten Verbreitung genauer Informationen über den Namen und die Adresse von Kliniken in einem anderen Mitgliedstaat, in denen ärztliche Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden.
3 Die Abtreibung war in Irland stets verboten, zunächst durch das Common Law, sodann durch Gesetz. Die zur Zeit geltenden maßgeblichen Bestimmungen sind die Sections 58 und 59 des Offences Against the Person Act [Gesetz über Straftaten gegen die Person] von 1861, die im Health (Family Planning) Act [Gesetz über die Gesundheit – Familienplanung] von 1979 erneut bestätigt wurden.
4 1983 wurde Artikel 40 Absatz 3 der irischen Verfassung im Wege einer durch Referendum gebilligten Verfassungsänderung um folgenden Unterabsatz 3 ergänzt: „Der Staat erkennt das Lebensrecht des Ungeborenen an und gewährleistet unter gebührender Berücksichtigung des gleichen Lebensrechts der...