Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Arbeitszeitgestaltung. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bei Langzeiterkrankung
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 7; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
1.Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer den in der erstgenannten Bestimmung verankerten und in der letztgenannten Bestimmung konkretisierten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen kann, wobei es insoweit unerheblich ist, dass es sich bei diesem um ein privates Unternehmen handelt, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde.
2.Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatlichen Gepflogenheiten nicht entgegensteht, nach denen in Ermangelung einer nationalen Bestimmung, die eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung für die Übertragung von erworbenen Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung nicht geltend gemacht wurden, Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub stattgegeben werden kann, die ein Arbeitnehmer innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf diesen Jahresurlaub entstanden ist, gestellt hat und die auf zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt sind.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-271/22 bis C-275/22
betreffend fünf Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil de prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich) mit Entscheidungen vom 14. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. April 2022, in den Verfahren
XT(C-271/22),
KH(C-272/22),
BX(C-273/22),
FH(C-274/22),
NW(C-275/22)
gegen
Keolis Agen SARL,
Beteiligte:
Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter), P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von XT, KH, BX, FH, NW, vertreten durch E. Delgado, Avocate,
- – der Keolis Agen SARL, vertreten durch J. Daniel, Avocat,
- – der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel, B. Herbaut und N. Vincent als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und D. Recchia als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen XT, KH, BX, FH sowie NW, den Klägern des Ausgangsverfahrens, auf der einen und der Keolis Agen SARL auf der anderen Seite wegen deren Weigerung, ihnen erworbene Urlaubstage zu gewähren, die sie aufgrund von Krankschreibungen nicht in Anspruch nehmen konnten, oder ihnen eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
Französisches Recht
Rz. 4
Nach Art. L. 3141-3 des Code du travail (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Monat effektiver Arbeitszeit beim selben Arbeitgeber.
Rz. 5
Art. L. 3141-5 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:
„Für die Bestimmung der Urlaubsdauer wird als effektive Arbeitszeit angesehen:
1. die Zeit des bezahlten Urlaubs;
…
5. die – auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte – Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist;
…“
Rz. 6
Art. L. 3245-1 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:
„Der Anspruch auf Zahlung oder Rückerstattung des Arbeitslo...