Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Arbeitszeitgestaltung. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Volle Erwerbsminderung oder Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Krankheit, die während eines Bezugszeitraums aufgetreten ist. Nationale Regelung, nach der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums verfallen. Obliegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1
Beteiligte
Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide |
St. Vincenz-Krankenhaus GmbH |
Tenor
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind wie folgt auszulegen:
Sie stehen einer nationalen Regelung entgegen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 7. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Oktober 2020, in den Verfahren
XP
gegen
Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide (C-518/20),
und
AR
gegen
St. Vincenz-Krankenhaus GmbH (C-727/20)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) und des Richters P. G. Xuereb,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von XP, vertreten durch Rechtsanwalt J. Rehberg,
- von AR, vertreten durch Rechtsanwältin U. Happe,w
- der Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide, vertreten durch Rechtsanwältin M. A. J. Strömer,
- der St. Vincenz-Krankenhaus GmbH, vertreten durch N. Gehling,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. März 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen XP und der Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide (im Folgenden: Fraport) (Rechtssache C-518/20) sowie zum anderen zwischen AR und der St. Vincenz-Krankenhaus GmbH (Rechtssache C-727/20). Gegenstand dieser Rechtsstreitigkeiten sind Ansprüche von XP und AR auf bezahlten Jahresurlaub für das Urlaubsjahr, in dessen Verlauf diese Arbeitnehmer vollständig erwerbsunfähig bzw. arbeitsunfähig wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 7 („Jahresurlaub”) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.”
Deutsches Recht
Rz. 4
§ 7 des Bundesurlaubsgesetzes vom 8. Januar 1963 (BGBl. 1963, S. 2) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: BUrlG) lautet:
„(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
(2) Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub aus diesen Gründen nicht zusammenhängend gewährt werden, und hat der Arbeitn...