Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit. Auslegung von Artikel 41 Absatz 1 des in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko. Begriff „Familienangehöriger”
Normenkette
Kooperationsabkommens EWG-Marokko Art. 41 Abs. 1; EGV Art. 177 a.F.
Beteiligte
Tenor
1.
Ein Familienangehöriger eines Wanderarbeitnehmers marokkanischer Staatsangehörigkeit, der die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erwirbt, bevor der Familienangehörige beginnt, mit ihm in dem betreffenden Mitgliedstaat zusammenzuleben, und bevor er nach den Rechtsvorschriften dieses Staates eine Leistung der sozialen Sicherheit beantragt, kann sich nicht gestützt auf Artikel 41 Absatz 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26. September 1978 (ABl. L 264, S. 1), auf die marokkanische Staatsangehörigkeit dieses Arbeitnehmers berufen, um in den Genuß des in dieser Vorschrift aufgestellten Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit zu kommen.
Ein solcher Familienangehöriger eines marokkanischen Wanderarbeitnehmers könnte sich, wenn dieser auch die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzt, zum Zweck der Anwendung des Artikels 41 Absatz 1 des Abkommens auf die marokkanische Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers nur gemäß dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats berufen, dessen Auslegung und Anwendung aber allein Sache des nationalen Gerichts im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ist.
2.
Der Begriff „Familienangehöriger” des marokkanischen Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 41 Absatz 1 des Abkommens erstreckt sich auf die Verwandten in aufsteigender Linie des Wanderarbeitnehmers und seines Ehegatten, die mit dem Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat zusammenleben.
Gründe
1.
Die Cour de travail Brüssel hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 11. Mai 1998, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 15. Mai 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 41 Absatz 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26. September 1978 (ABl. L 264, S. 1; im folgenden: Abkommen), zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Mesbah (im folgenden: Klägerin), einer marokkanischen Staatsangehörigen, und dem belgischen Staat wegen der Versagung einer Beihilfe für Behinderte.
3.
Nach den Akten des Ausgangsverfahrens lebt die Klägerin seit dem 10. September 1985 in Belgien und gehört dem Haushalt ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns an.
4.
Diese sind marokkanischer Herkunft und Staatsangehörigkeit, haben aber nach dem Urteil des vorlegenden Gerichts „wie es scheint, Mitte der siebziger Jahre” durch Einbürgerung die belgische Staatsangehörigkeit erworben. Auf Anfrage hierzu teilte die belgische Regierung dem Gerichtshof mit, daß der Schwiegersohn der Klägerin die belgische Staatsangehörigkeit seit dem 2. September 1985 besitze. Der Beistand der Klägerin hat seinen beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen zudem eine Bescheinigung des Generalkonsulats des Königreichs Marokko in Brüssel beigelegt, aus der hervorgeht, daß der Schwiegersohn der Klägerin am 27. Juli 1998 nach wie vor die marokkanische Staatsangehörigkeit besaß.
5.
Der Schwiegersohn der Klägerin arbeitete von 1964 bis 1989 in Belgien, wo er seit seinem Eintritt in den Ruhestand weiter zusammen mit seiner Frau lebt.
6.
Am 22. März 1995 beantragte die Klägerin, die körperlich behindert ist und selbst niemals eine Berufstätigkeit in Belgien ausgeübt hat, eine Beihilfe für Behinderte gemäß dem belgischen Gesetz vom 27. Februar 1987 (Moniteur belge vom 1. April 1987, S. 4832).
7.
Nach Artikel 4 Absatz 1 dieses Gesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 1991 (Moniteur belge vom 1. August 1991, S. 16951) setzt ein Anspruch auf eine Beihilfe für Behinderte voraus, daß der Betroffene seinen tatsächlichen Wohnsitz in Belgien hat und Belgier, Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Gemeinschaft, Staatenloser, Inhaber einer unbestimmten Staatsangehörigkeit oder Flüchtling ist oder bis zum 21. Lebensjahr den nach belgischem Recht vorgesehenen Zuschlag zur Familienbeihilfe erhalten hat. Das Gesetz vom 20. Juli 1991 trat am 1. Januar 1992 in Kraft.
8.
Am 8. März 1996 lehnten die zuständigen belgischen Behörden den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, sie erfülle nicht das Staatsangehörigkeitserfordernis des Artikels 4 Absatz 1 des Gesetzes vom 27. Februar 1987.
9.
Am 22. März 1996 erhob die Klägeri...