Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Sicherheit für Wanderarbeitnehmer. Verschleierte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Wohnort als maßgebliches Kriterium
Leitsatz (amtlich)
1.
Art 51 EWG-Vertrag sieht eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vor und läßt also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezüglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die materiellen und verfahrensmäßigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch Art 51 EWG-Vertrag nicht berührt. Dem mit den Art 48 bis 51 EWG-Vertrag angestrebten Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft wird entgegengearbeitet, seine Erreichung wird erschwert, wenn das Gemeinschaftsrecht vermeidbare Unterschiede zwischen den jeweiligen Bestimmungen der sozialen Sicherheit schafft. Daraus folgt, daß das aufgrund des Art 51 EWG-Vertrag erlassene Sozialrecht der Gemeinschaft keine Unterschiede einführen darf, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben.
2.
Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen.
3.
Dies ist namentlich der Fall, wenn das Kriterium des Wohnorts der Familienangehörigen vom Gemeinschaftsrecht dazu verwendet wird, die Rechtsvorschriften zu bestimmen, die auf die dem Wanderarbeitnehmer zustehenden Familienleistungen Anwendung finden. Selbst wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats den Anspruch eines im nationalen Hoheitsgebiet beschäftigten Staatsangehörigen dieses Staates auf Familienleistungen nach demselben Kriterium bestimmen, hat dieses Kriterium für diese Kategorie von Arbeitnehmern keineswegs dieselbe Bedeutung, denn das Problem, daß die Familienangehörigen außerhalb des Beschäftigungsmitgliedstaats wohnen, stellt sich im wesentlichen für die Wanderarbeitnehmer. Deshalb ist dieses Kriterium nicht geeignet, die durch Art 48 EWG-Vertrag vorgeschriebene Gleichbehandlung zu gewährleisten, und darf somit im Rahmen der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften, die in Art 51 EWG-Vertrag vorgesehen ist, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft gemäß Art 48 zu fördern, nicht angewandt werden.
4.
Art 73 Abs 2 der Verordnung Nr 1408/71 ist somit insoweit ungültig, als er ausschließt, daß den Arbeitnehmern, die den französischen Rechtsvorschriften unterliegen, für ihre im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnenden Familienangehörigen französische Familienleistungen gewährt werden.
5.
Art 174 Abs 2 EWG-Vertrag räumt, soweit zwingende Erwägungen dies rechtfertigen, dem Gerichtshof einen Beurteilungsspielraum ein, damit dieser in jedem Einzelfall konkret diejenigen Wirkungen einer für nichtig erklärten Verordnung bezeichnen kann, die als fortgeltend zu betrachten sind. Macht der Gerichtshof von der Möglichkeit Gebrauch, die Rückwirkung einer Feststellung der Ungültigkeit im Verfahren des Art 177 EWG-Vertrag für die Vergangenheit zu begrenzen, so hat er zu entscheiden, ob von dieser Begrenzung der zeitlichen Wirkung seines Urteils zugunsten der Partei, die die Klage vor dem nationalen Gericht erhoben hat, oder zugunsten anderer Personen, die vor der Feststellung der Ungültigkeit entsprechend gehandelt haben, eine Ausnahme vorgesehen werden kann oder ob im Gegenteil selbst für Personen, die rechtzeitig etwas zur Wahrung ihrer Rechte getan haben, eine nur in die Zukunft wirkende Ungültigerklärung in angemessener Weise Abhilfe schafft.
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 73 Abs. 2; EWGVtr Art. 51, 48, 174 Abs. 2, Art. 177
Beteiligte
Caisse d'allocations familiales de la Savoie |
Fundstellen
Haufe-Index 1150778 |
EuGHE 1986, 1 |
SozR 6050 Art. 73 Nr 9 |