Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Leiharbeit. Anwendungsbereich. Begriff ‚vorübergehende Zurverfügungstellung‘. Verlagerung der Aufgaben eines Arbeitnehmers von dessen Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen. Dauerhafte Zurverfügungstellung dieses Arbeitnehmers unter Beibehaltung seines ursprünglichen Arbeitsvertrags
Normenkette
Richtlinie 2008/104/EG Art. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit
ist dahin auszulegen, dass
diese Richtlinie nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der zum einen die Aufgaben eines Arbeitnehmers endgültig von seinem Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen verlagert werden und zum anderen dieser Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis zu diesem Arbeitgeber fortbesteht, weil er von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat, auf Verlangen des Arbeitgebers verpflichtet sein kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Drittunternehmen zu erbringen, und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Drittunternehmens unterliegen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache C-427/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2021, in dem Verfahren
LD
gegen
ALB FILS Kliniken GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, des Richters A. Kumin (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.-L. Krüger als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LD, einem Arbeitnehmer, und der ALB FILS Kliniken GmbH, seiner ehemaligen Arbeitgeberin, über die Pflicht von LD, seine Arbeitsleistung dauerhaft bei der A Service GmbH (im Folgenden: Gesellschaft A) zu erbringen, nachdem die Aufgaben, die er bei ALB FILS Kliniken wahrgenommen hatte, auf sie verlagert worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 11 und 15 der Richtlinie 2008/104 lauten:
„(11) Die Leiharbeit entspricht nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren. Sie trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei.
…
(15) Unbefristete Arbeitsverträge sind die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses. Im Falle von Arbeitnehmern, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen geschlossen haben, sollte angesichts des hierdurch gegebenen besonderen Schutzes die Möglichkeit vorgesehen werden, von den im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln abzuweichen.“
Rz. 4
Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/104 bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten.
(2) Diese Richtlinie gilt für öffentliche und private Unternehmen, bei denen es sich um Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht.
…“
Rz. 5
Art. 2 („Ziel“) der Richtlinie 2008/104 lautet:
„Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen.“
Rz. 6
In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
b) ‚Leiharbeitsunternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, die nach einzel...