Entscheidungsstichwort (Thema)
Umkleidezeiten als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Entgeltanspruch des Arbeitnehmers für nicht berücksichtigte Umkleidezeiten im Arbeitszeitkonto nach Ablauf eines Kalenderjahres. Unionsrechtlicher Anspruch auf Zahlung von Umkleidezeiten auch an Urlaubstagen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei von den Arbeitnehmern betrieblich erforderlichen Umkleidezeiten zum An- und Ablegen der Dienstkleidung handelt es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeit nach § 611a Abs. 1 BGB (Anschluss an BAG 25. April 2018 - 5 AZR 245/17 - NZA 2018, 1081).
2. Besteht ein Jahresarbeitszeitkonto und ist der das Kalenderjahr umfassende Bezugszeitraum abgelaufen, kann der Arbeitnehmer die Auszahlung des Entgelts für die bislang unberücksichtigt gebliebenen Umkleidezeiten verlangen. Dem steht das Bestehen eines Arbeitszeitkontos nicht grundsätzlich entgegen.
3. Die Arbeitnehmer können verlangen, dass die Umkleidezeiten auch im Falle des Urlaubs nach § 11 Abs. 1 BUrlG zu vergüten sind. Die Regelung in § 11 BUrlG ist einer unionsrechtskonformen Auslegung gemäß Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88 zugänglich, weil und soweit sichergestellt wird, dass sämtliche ausgefallenen Arbeitsstunden dem Arbeitnehmer nach den §§ 1, 3, 13 BUrlG - also im Rahmen des Zeitfaktors - garantiert werden.
Normenkette
BGB § 611a; BUrlG §§ 1, 11 Abs. 1, § 13; EGRL 2003/88 Art. 7 Abs. 1; EFZG §§ 3, 4 Abs. 1a, 4; MTV Bodenpersonal § 5 Abs. 3; ZPO § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 2
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 29.05.2019; Aktenzeichen 7 Ca 2226/18) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 29. Mai 2019 – 7 Ca 2226/18 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt insgesamt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.510,09 EUR (in Worten: Eintausendfünfhundertzehn und 09/100 Euro) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28. April 2018 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger 66 % und die Beklagte 34 % zu tragen. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger 65 % und die Beklagte 35 % zu tragen.
Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte für das Umkleiden aufgewendete Arbeitszeit in den Kalenderjahren 2013 bis 2015 zu vergüten hat bzw. ob hierfür hilfsweise eine Freistellung zu erfolgen hat.
Die Beklagte gehört zu dem Konzern der A und stellt Verpflegung für den Verzehr/Verkauf auf den Flügen der A her.
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 15. Januar 1985 als „Commis“ beschäftigt. Es gibt einen schriftlichen Arbeitsvertrag vom 15. März 1995, der unter Ziff. 3 vorsieht, dass sich die Rechte und Pflichten des Mitarbeiters aus den gültigen Tarifverträgen, den Betriebsvereinbarungen und Regeln der B ergeben. Der Bruttostundenlohn belief sich auf 21,13 Euro.
Seit dem 1. Januar 2013 besteht bei der Beklagten die Pflicht, Arbeitskleidung im Betrieb anzulegen. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass sich die Umkleidezeit auf 8 Minuten je Umkleidevorgang, also 16 Minuten pro Arbeitstag beläuft.
Die Konzernbetriebsparteien haben am 9. September 2013 eine Konzernbetriebsvereinbarung „Abschluss der Gesamtbetriebsvereinbarungen Flex/Glaz der ehem. C“ (im folgenden KonzernBV) abgeschlossen, die zum Regelungsgegenstand hat, die Gesamtbetriebsvereinbarungen für bestimmte, dort näher bezeichnete Gesellschaften des C Konzerns mit Wirkung zum 1. Januar 2014 für anwendbar zu erklären. Davon erfasst war unter anderem die Rahmenbetriebsvereinbarung über die Flexibilisierung der Arbeitszeit (Flex) bei der C vom 13. Juni 2006 (im Folgenden RahmenBV Flex). Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass diese Betriebsvereinbarung schon im Kalenderjahr 2013 im Betrieb Anwendung fand. Darin heißt es auszugsweise wie folgt:
„§ 2 Definitionen
Jahresarbeitszeitkonto:
Für die Mitarbeiter/-innen wird ein Jahresarbeitszeitkonto geführt. Hierauf wird zu Beginn des Bezugszeitraumes die tarifliche oder individuelle Jahresarbeitszeit als Sollarbeitszeit dokumentiert. Jede tatsächlich gearbeitete Stunde bzw. Ersatzzeiten werden gegen diese Sollarbeitszeit gebucht.
Bezugszeitraum:
Die Dauer des Bezugszeitraums ist die Zeit vom 01.01. bis 31.12. des jeweiligen Kalenderjahres bzw. bei unterjährigem Eintritt des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin der Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende des Kalenderjahres.
Ausgleichszeitraum:
Der Ausgleichszeitraum ist der Zeitraum vom 01.01. bis 30.06. des auf den Bezugszeitraum folgenden Kalenderjahres, in welchem Überstunden abgebaut und Minusstunden ausgeglichen werden sollen.
…
§ 3 Jahresarbeitszeit
- (1) Für die Mitarbeiter/-innen gilt auf der Basis der tariflich vereinbarten Stundenwoche bzw. bei Teilzeitmitarbeitern/innen auf Basis der vertraglichen Vereinbarung (Berechnungsgrundlage) eine Jahresgesamtarbeitszeit (zwölfmonatiger Bezugszeitraum 01.01. bis 31.12.) als ve...