Rz. 26

Die Fälle, in denen eine rückwirkende Rücknahme rechtswidrig begünstigender VA möglich ist (Rückwirkungsgründe), sind in Abs. 4 Satz 1 für VA mit und ohne Dauerwirkung abschließend aufgezählt. Es sind dies alternativ die auch den Vertrauensschutz ausschließenden Gründe des Abs. 2 Satz 3, ferner die ausdrücklich durch Verweisung auf Abs. 3 Satz 2 genannten Fälle der Wiederaufnahmegründe des § 580 ZPO.

 

Rz. 27

Damit ist klargestellt, dass in den nicht von Abs. 4 Satz 1 erfassten Fällen der rückwirkenden Rücknahme des rechtswidrig begünstigenden VA die Rücknahme jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft stattfinden darf. Das führt bei vollzogenen und damit i. S. v. § 39 Abs. 2 in ihrer Wirkung erledigten Bescheiden über einmalige Leistungen oder für abgelaufene Leistungszeiträume dazu, dass die Leistungen dem Begünstigten verbleiben; bei Bescheiden über laufende Dienstleistungen sind sogar nicht bewirkte Einzelleistungen bis zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des Rücknahmebescheids nachträglich zu erbringen. Wird ein Vormerkungsbescheid für beitragsfreie Zeiten in der Angestelltenversicherung mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen, so bleiben die vorgemerkten Zeiten für die bis zum Rücknahmezeitpunkt zu leistenden Rentenzahlungen maßgeblich (BSG, Urteil v. 26.3.1987, 11a RA 2/86, SozR 1300 § 45 Nr. 28).

 

Rz. 28

Selbst wenn die Voraussetzungen für eine rückwirkende Rücknahme vorliegen, ist die Behörde nicht gezwungen, sondern nur berechtigt, die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit auszusprechen. Sie hat also zusätzlich zu der Ermessensentscheidung der Rücknahme an sich eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der ganz oder teilweise rückwirkenden Rücknahme zu treffen (abweichend davon ist gemäß § 330 Abs. 2 SGB III im Recht der Arbeitsförderung zwingend die rückwirkende Rücknahme vorgeschrieben; vgl. Komm. zu § 330 SGB III). Auch bei Verlust des Vertrauensschutzes gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 besteht also außerhalb der gesetzlichen Sonderregelungen wie etwa in § 330 Abs. 2 SGB III keine Vorzeichnung der Ermessensbetätigung in dem Sinne, dass nur die Rücknahme des begünstigenden Bescheides rechtmäßig wäre (kein sog. intendiertes Ermessen, vgl. BVerwG, Urteil v. 14.3.2013, 5 C 10/12 zur Rückforderung von Ausbildungsförderung mit Anm. Störmer, in jurisPR-BVerwG 19/2013; a. A. OVG Münster, Urteil v. 28.3.2001, 16 A 4212/00; vgl. auch BSG, Urteil v. 30.10.2013, B 12 R 14/11, und Rieker, rv 2014 S. 85).

 

Rz. 29

In den Fällen des Abs. 4 Satz 1 hat die Behörde das Recht zur rückwirkenden Rücknahme nur binnen einer Handlungsfrist von einem Jahr (Satz 2). Innerhalb dieses Zeitraumes muss sie die ihr bekannt gewordenen, für die rückwirkende Rücknahme sprechenden Tatsachen verwerten (Verwertungsfrist).

Diese Jahresfrist beginnt nicht schon dann zu laufen, wenn der für die Entscheidung über die Aufhebung nach der Geschäftsverteilung des Leistungsträgers zuständigen Behörde die Tatsachen bekannt werden, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden VA ergibt. Vielmehr müssen auch die Tatsachen bekannt sein, die eine Rücknahme, und zwar für die Vergangenheit, rechtfertigen, wie beispielsweise die tatsächlichen Umstände, aus denen sich die grobe Fahrlässigkeit oder ein sonstiges Verschulden ergibt. Der Beginn der Jahresfrist setzt die objektive Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen voraus, nicht aber die subjektive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides (str., vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 19.11.2013, L 7 R 3/11, offengelassen in LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 14.5.2014, L 8 U 69/12). Häufig wird die erforderliche Kenntnis erst nach Durchführung der Anhörung vorhanden sein (vgl. LSG Hamburg, Urteil v. 18.9.2014, L 4 AS 179/13; LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 14.5.2014, L 8 U 69/12). Im Rahmen des § 45 Abs. 4 Satz 2 kommt es nicht auf die Kenntnis des Außendienstmitarbeiters, sondern auf die Kenntnis des für die Rücknahme zuständigen Sachbearbeiters der Behörde an (BSG, Urteil v. 17.11.2008, B 11 AL 87/08 B). Anzunehmen ist eine Kenntnis der Dienststelle dann, wenn ihr die Tatsache so hinreichend bekannt ist, dass ohne weiteres der Schluss auf einen Sachverhalt gezogen werden kann, der die Rücknahme rechtfertigt, ohne dass noch ernstliche Zweifel an den Aufhebungsvoraussetzungen vorliegen. All dies wird häufig erst nach der Anhörung des Betroffenen der Fall sein (BSG, Urteil v. 8.2.1996, 13 RK 35/94, SozR 3-1300 § 45 Nr. 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 18.4.2007, L 3 AL 3130/04; LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 14.5.2014, L 8 U 69/11). Ausnahmsweise kann der Beginn der Jahresfrist auch vor der Anhörung liegen und zwar dann, wenn die Behörde in Ermangelung objektiv gerechtfertigter Zweifel über eine hinreichend sichere Kenntnis auch der Bösgläubigkeit des Betroffenen verfügt (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 3.3.2006, L 1 AL 197/05, mit Anm. Merten, jurisPR-SozR 15/2006 Rz. 5). Zur Frage des Beginns der Jahresfrist, wenn die Behörde keine eigenen Ermittlungen anstellt, sond...

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