Rz. 3
Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zu sorgen. Dem trägt Abs. 1 Satz 1 Rechnung. Lässt sich die Gefahr nicht anders beseitigen, so sollen die Unfallversicherungsträger nach Maßgabe von Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 darauf hinwirken, dass der Versicherte die gefährdende Tätigkeit unterlässt.
2.1.1 Spezifische Gefahrenlage
2.1.1.1 Gefahrenbegriff
Rz. 4
Der Gefahrenbegriff ist im Polizei- und Ordnungsrecht entwickelt worden. Eine Gefahr setzt danach begrifflich voraus, dass bei ungehindertem Ablauf der Ereignisse ein Schaden für das jeweilige Schutzgut eintritt (vgl. Becker, § 9 Rz. 393 m. w. N.). Ebenso wie im Polizei- und Ordnungsrecht muss der allgemeine Gefahrenbegriff auch hier präzisiert werden. Zu fordern ist eine individuelle Gefahr im Einzelfall, die über die generelle Gefahr hinausgeht, die durch die im Berufskrankheitentatbestand genannte schädigende Einwirkung verursacht wird. Es genügt bereits die statistisch erhöhte Möglichkeit des Entstehens, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit (BSG, Urteil v. 22.3.1983, 2 RU 22/81; Urteil v. 16.3.1995, 2 RU 18/94; Urteil v. 20.2.2001, B 2 10/00 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 20.2.2003, L 2 U 67/02). Das Risiko des Schadenseintritts muss jedenfalls am konkreten Arbeitsplatz des Versicherten über den Grad hinausgehen, der bei anderen Versicherten bei einer vergleichbaren Beschäftigung besteht.
Rz. 5
Eine zeitliche Nähe des Schadenseintritts fordert ein Teil der Kommentarliteratur (Ricke, in: Kasseler Kommentar, § 9 Rz. 61; Römer, in: Hauck/Noftz, § 9 Anhang, § 3 BKV Rz. 21), nicht aber die Rechtsprechung (BSG, Urteil v. 25.10.1989, 2 RU 57/88).
Rz. 6
Da der Zusammenhang in Bezug auf eine künftig entstehende, wiederauflebende oder sich verschlimmernde Berufskrankheit beurteilt werden muss, ist eine Risikoprognose vorzunehmen. Dabei müssen die betrieblichen und die individuellen Risikofaktoren wertend betrachtet und abgewogen werden. Dies macht die Anwendung der vom BSG (a. a. O.) kreierten Risikoerhöhungsformel äußerst schwierig. Die Formel von der statistisch erhöhten Möglichkeit sollte den Blick nicht dafür verstellen, dass die Prognose nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung im Einzelfall ergeben muss. Es müssen Anhaltspunkte dafür vorhanden, also feststellbar sein, dass bei Fortsetzung der gefährdenden Tätigkeit mit Wahrscheinlichkeit die Berufskrankheit entstehen, wiederaufleben oder sich verschlimmern wird. Dafür reicht allerdings nach der Risikoerhöhungsformel ein Schädigungsrisiko aus, das nicht unerheblich über jenes hinausgeht, welches zur Aufnahme in die Liste der Anl. 1 zur BKV geführt hat.
Rz. 7
Als wichtige Kriterien bei der Risikoabschätzung im Einzelfall werden genannt (Mehrtens/Perlebach, § 3 BKV Anm. 2.7):
- Art und Ausprägung der gesundheitlichen Risikofaktoren,
- Art und Intensität der Einwirkungen,
- Ausprägung des individuellen Krankheitsverlaufs sowie
- Schwere der drohenden körperlichen Schädigungen.
2.1.1.2 Entstehen
Rz. 8
Die Gefahr des Entstehens der Berufskrankheit setzt voraus, dass das tatbestandliche Krankheitsbild noch nicht voll ausgeprägt und dauerhaft vorliegt. Es reicht aus, dass Krankheitssymptome vorliegen, aus denen die Gefährdungslage resultiert. Die Berufskrankheit muss noch nicht zur Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit gezwungen haben, wie es Nr. 2108, 2109, 2110 und auch Nr. 4301, 4302 tatbestandlich fordern. Eine Hauterkrankung muss noch nicht schwer und wiederholt rückfällig aufgetreten sein, wie Nr. 5101 es verlangt. Ist die das tatbestandliche Krankheitsbild hingegen bereits voll ausgeprägt und liegt dauerhaft vor, es fehlt jedoch an der vollständigen Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit, die der jeweilige Tatbestand verlangt, so besteht kein Anspruch auf Leistungen nach Abs. 1. Dann besteht nicht mehr die Gefahr des Entstehens der Berufskrankheit, sondern diese ist bereits entstanden (BSG, Urteil v. 22.3.2011, B 2 U 4/10R).
2.1.1.3 Wiederaufleben
Rz. 9
Die Gefahr des Wiederauflebens kommt in Betracht, wenn die Berufskrankheit bereits zuvor ausgebrochen war, wenn also alle Voraussetzungen des Berufskrankheiten-Tatbestandes gegeben waren und der Versicherungsfall eingetreten war. Weiter wird vorausgesetzt, dass die Krankheit ausgeheilt war, nun aber mit einem erneuten Ausbruch der Krankheit zu rechnen ist, wenn die gefährdende Tätigkeit fortgesetzt wird. Dies kommt insbesondere bei chronischen Erkrankungen mit sporadisch auftretenden Krankheitsschüben in Betracht, z. B. bei der Berufskrankheit nach Nr. 5101 (Hauterkrankungen) oder nach Nr. 4301 oder 4302 (obstruktive Atemwegserkrankungen).
Rz. 10
Fraglich ist, ob bei einer Berufskrankheit, bei der das Unterlassen der gefährdenden Tätigkeit zwingende Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungsfalles ist (z. B. bei den Wirbelsäulenberufskrankheiten nach Nr. 2108 bis 2110) ein Wiederaufleben dann angenommen werden kann, wenn der Versicherte die gefä...