0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift wurde bei Neufassung der BKV v. 31.10.1997 (BGBl. I S. 2623) mit den damaligen Abs. 1 bis 4 zum 1.12.1997 eingeführt. Mit der Änderungs-VO v. 5.9.2002 (BGBl. I S. 3541) wurde ein neuer Abs. 1 vorangestellt. Die bisherigen Abs. 1 bis 4 wurden zu Abs. 2 bis 5. Durch Änderungs-VO v. 11.6.2009 (BGBl. I S. 1273) ist der Vorschrift erneut ein Abs. 1 mit Wirkung zum 1.7.2009 vorangestellt worden. Die bisherigen Abs. 1 bis 5 wurden zu Abs. 2 bis 6. Im neuen Abs. 3 ist Satz 2 ebenfalls mit Wirkung zum 1.7.2009 eingefügt worden. Mit Art. 1 Nr. 1 Buchst. a der Dritten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (3. BKVÄndV) v. 22.12.2014 (BGBl. I S. 2397) wurde mit Wirkung zum 1.1.2015 ein neuer Abs. 1 eingefügt. Die bisherigen Abs. 1 bis 6 werden Abs. 2 bis 7. Mit Art. 1 Nr. 1 Buchst. a der Vierten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (4. BKVÄndV) v. 10.7.2017 (BGBl. I S. 2299) wurde mit Wirkung zum 1.8.2017 ein neuer Abs. 1 eingefügt. Die bisherigen Abs. 1 bis 7 werden Abs. 2 bis 8. Regelungen zur Rückwirkung enthält auch der am 1.1.2021 in Kraft getretene § 9 Abs. 2a SGB VII (Art. 7 Nr. 3 Buchst. c des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 12.6.2020, BGBl. I S. 1248). Der ebenfalls am 1.1.2021 in Kraft getretene § 12 BKV sieht zwar die Überprüfung bestimmter bestandskräftiger Bescheide vor, die nach dem 1.1.1997 ergangen sind. Rückwirkende Leistungen sind jedoch nicht zu gewähren (vgl. die Komm. zu § 12 Rz. 4).
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift enthält Regelungen zur rückwirkenden Anerkennung von Listen-Berufskrankheiten, die zu verschiedenen Zeitpunkten in die Anl. 1 zur BKV aufgenommen wurden. Das BVerfG hat diese Rückwirkungsklauseln in einer Reihe von Entscheidungen als verfassungsmäßig eingestuft, obwohl diese in einem Spannungsverhältnis zu § 9 Abs. 2 SGB VII stehen, der im Wortlaut keine Begrenzung der Rückwirkung vorsieht (vgl. Komm. zu § 9 SGB VII Rz. 66 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerfG).
2 Rechtspraxis
2.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit
Rz. 3
Verfassungsrechtlich geboten ist jeweils das Vorliegen eines sachlichen Grundes für den Stichtag, von dem an die jeweilige Berufskrankheit rückwirkend anerkannt werden kann. Dies gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Eine unbeschränkte Rückwirkung wirft Ermittlungs- und Beweisprobleme auf, da auf weit zurückliegende Sachverhalte abzustellen wäre. Weiter spricht der Gesichtspunkt der sachgerechten Zurechnung von Risiken gegen eine unbeschränkte Rückwirkung. Denn die gesetzliche Unfallversicherung wurde unter der Herrschaft der RVO und wird nach dem geltenden SGB VII von dem Listenprinzip geprägt. Danach erstreckt sich der Versicherungsschutz grundsätzlich nicht auf jede beruflich verursachte Krankheit, sondern nur auf solche, die als Berufskrankheiten in die BKV (früher BKVO) listenmäßig aufgenommen sind. Solange aber das "Ob" und "Wie" der beruflichen Verursachung bestimmter Erkrankungen nicht bekannt ist, sind regelmäßig weder den Unternehmern (gezielte) Präventionsmaßnahmen möglich noch kann der Versicherte, ohne dass neue berufskrankheitsreife medizinische Erkenntnisse vorliegen, damit rechnen, insoweit versichert zu sein. Es bedarf besonderer Gründe, um die Unternehmer, die die gesetzliche Unfallversicherung allein finanzieren, unbeschränkt mit Entschädigungskosten für Krankheiten der Versicherten zu belasten, die aufgrund berufsbedingter schädigender Einwirkungen lange vor Inkrafttreten der BKV aufgetreten sind (BSG, Urteil v. 30.9.1999, B 8 KN 5/98 U R; Urteil v. 13.6.2006, B 8 KN 3/05 R; BVerfG, Beschluss v. 30.3.2007, 1 BvR 3144/06).
Rz. 4
Allerdings muss der Rückwirkungszeitraum ausreichend weit in die Vergangenheit reichen. Dem wird grundsätzlich dadurch Rechnung getragen, dass auf den Zeitpunkt abgestellt wird, an dem die letzte Änderungsverordnung erlassen worden ist, mit der neue Berufskrankheiten in die Verordnung aufgenommen worden sind. Diese Ausgestaltung haben das BVerfG (BVerfG, Beschluss v. 30.3.2007, 1 BvR 3144/06) und das BSG (Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R) bestätigt.
Rz. 5
Im Rahmen des pflichtgemäßen Beurteilungsermessens hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung zu überprüfen und soweit erforderlich zu korrigieren. Nur so kann er den Einschätzungs- und Prognosespielraum sachgerecht ausschöpfen. Ausgehend vom Ergebnis der Überprüfung ist der Rückwirkungszeitraum zu bemessen.
2.2 Abgrenzung gegenüber der Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII
Rz. 6
Liegt der Versicherungsfall vor dem Rückwirkungszeitpunkt nach § 6, so kommt allein eine Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 in Betracht. Ist diese vor dem Inkrafttreten der in Aussicht genommenen Änderung der BKV erfolgt, so erhält der Versicherte dadurch eine Rechtsposition, die aus rechtsstaatlichen Gründen durch die in der Verordnung getroffene Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich i. d. R. nicht mehr in Frage gestellt werden kann (BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R, SGb 2007 S. 354 mit Anm. von Rüfner; BVerfG, Beschluss v. 23.6.2005, 1 BvR 235/00, SGb 2006 S....