Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungskonforme Auslegung des Berliner Neutralitätsgesetzes zum Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke an allgemeinbildenden Schulen. Religiösbedingte Benachteiligung einer kopftuchtragenden Bewerberin für die Einstellung als Lehrerin an einer Berliner Grundschule. Entschädigungsklage einer Lehrerin für islamischen Religionsunterricht bei unzureichenden Darlegungen des beklagten Landes zum Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität
Leitsatz (amtlich)
§ 2 Satz 1 des Berliner Neutralitätsgesetzes ist verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Land Berlin Lehrkräften das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke dann untersagen kann, wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität einer öffentlichen Schule oder sämtlicher öffentlicher Schulen in einem bestimmten Bezirk gegenüber Schülerinnen und Schülern gefährdet oder gestört wird.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild, das bereits die abstrakte Gefahr einer Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausreichen lässt, ist im Hinblick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Lehrkräfte jedenfalls unangemessen und damit unverhältnismäßig, wenn die Bekundung nachvollziehbar auf ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurückführbar ist. Erforderlich ist vielmehr eine hinreichend konkrete Gefahr.
2. Eine gebietsbezogene und möglicherweise auch landesweite Untersagung kommt von Verfassungs wegen für öffentliche bekenntnisoffene Schulen nur dann in Betracht, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität im gesamten Geltungsbereich der Untersagung besteht.
3. Allein das Tragen eines “islamischen Kopftuches" begründet eine hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht, denn vom Tragen einer solchen Kopfbedeckung geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus. Ein “islamisches Kopftuch" ist in Deutschland nicht unüblich, sondern spiegelt sich im gesellschaftlichen Alltag vielfach wider.
4. § 2 Satz 1 NeutralitätsG BE verbietet nach seinem Wortlaut das Tragen von auffallend religiös geprägten Kleidungsstücken, ohne dies von weiteren Voraussetzungen wie etwa vom Vorliegen einer konkreten Gefahr abhängig zu machen und stellt damit jedenfalls nach seinem Wortlaut ein pauschales Kopftuchverbot dar.
5. Ein pauschales Kopftuchverbot verletzt eine Stellenbewerberin in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
6. Anders als beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer ist mit dem Tragen eines Kopftuches durch einzelne Lehrerinnen keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden. Auch eine Wertung in dem Sinne, dass das glaubensgeleitete Verhalten der Lehrerinnen von Seiten der Schule als vorbildhaft angesehen und schon deshalb der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gefährdet oder gestört werden könnte, ist einer entsprechenden Duldung durch den Dienstherrn nicht beizulegen.
Normenkette
AGG § 15 Abs. 2; Berliner NeutrG § 2; GG Art. 4, 6-7, 4 Abs. 1-2; AGG §§ 1, 7 Abs. 1; NeutralitätsG BE § 2 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 14.04.2016; Aktenzeichen 58 Ca 13376/15) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 14. April 2016 - 58 Ca 13376/15 - teilweise abgeändert und das beklagte Land verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 8.680 EUR zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 1/3 und das beklagte Land 2/3 zu tragen.
IV. Die Revision wird für das beklagte Land zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung wegen einer Benachteiligung aufgrund der Religion.
Die am .... 1978 in Berlin geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige, verheiratet und hat zwei Kinder. Die Klägerin ist gläubige Muslima und trägt aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch.
Im Mai 2008 bestand die Klägerin die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt für die Bildungsgänge der Sekundarstufe I und der Primarstufe an allgemeinbildenden Schulen mit Fächern Politische Bildung, Deutsch und Sachunterricht als weiterem Fach und erhielt die Gesamtnote "befriedigend". Das Thema der schriftlichen Hausarbeit lautete "Handlungsorientierung im Politikunterricht am Beispiel des Planspiels in den Klassenstufen 5/6." Hinsichtlich des vollständigen Inhalts des Zeugnisses vom 14. Mai 2008 wird auf die Ablichtung auf Bl. 27 d. A. Bezug genommen (Anlage K1).
Am 1. September 2008 schlossen die Klägerin und der Verein I. F. in Berlin e.V. mit Wirkung vom 1. September 2008 einen Arbeitsvertrag, mit dem die Klägerin als Lehrerin für islamischen Religionsunterreicht eingestellt wurde. Die Klägerin wurde als Religionslehrerin an einer Berliner Grundschule eingesetzt.
Seit Januar 2014 befand sich die Klägerin in Elternzei...