Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrufe zu „Flashmob”-Aktionen als ergänzende Arbeitskampfmittel zu einem laufenden Streik
Leitsatz (amtlich)
1. Aufrufe einer Gewerkschaft an ihre Mitglieder und andere Personen während eines Streiks im Einzelhandel zu „Flashmob”-Aktionen unterfallen als einen laufenden Arbeitskampf ergänzende Maßnahmen grundsätzlich der in Art. 9 Abs.3 GG geschützten Koalitionsfreiheit und im engeren Sinne der darin geschützten Freiheit der Wahl der Arbeitskampfmittel.
2. Es handelt sich nicht um Aufrufe zu unzulässigen Betriebsblockaden oder Sabotageaktionen.
3. Die Grenze des Kampfgleichgewichts (Kampfparität) ist durch solche Aufrufe jedenfalls dann nicht überschritten, wenn der Wirkung des Streiks in den Betrieben zuvor durch Einsatz von Leiharbeitnehmern weitgehend ausgewichen und der Streik in der Öffentlichkeit deshalb kaum noch wahrgenommen wurde.
4. Die Zulässigkeit solcher Aufrufe ist im Einzelfall am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, wobei die Koalitionsbetätigungsfreiheit mit kollidierenden Rechtspositionen des Kampfgegners und Dritter abzuwägen ist.
5. Dem bei solchen Aufrufen durch die Einbeziehung von Nichtmitgliedern erhöhten Exzessrisiko kann die Gewerkschaft im Einzelfall durch umsichtige Vorbereitung und Durchführung der danach erfolgten Aktion ausreichend entgegenwirken.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Urteil vom 01.04.2008; Aktenzeichen 34 Ca 2402/08) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 01.04.2008 – 34 Ca 2402/08 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, Aufrufe zu sogenannten „Flashmob”-Aktionen im Arbeitskampf zu unterlassen.
Der Kläger, dessen Mitglieder Einzelhandelsunternehmen im Raum Berlin-Brandenburg sind, befand sich seit etwa einem Jahr in Verhandlungen um einen Tarifvertrag für den Berliner Einzelhandel und in einem diesbezüglichen Arbeitskampf mit der Beklagten. Im Dezember 2007 veröffentlichte der rechtlich unselbständige Landesbezirk Berlin-Brandenburg der Beklagten u. a. auf seiner Homepage im Internet ein Flugblatt mit folgendem Wortlaut:
„Wunschliste der EinzelhändlerInnen an Gewerkschaftsmitglieder und alle, die uns unterstützen wollen
- ▸ Bitte kaufe nicht in Filialen ein, die bestreikt werden! Informationen darüber erhältst Du in unserem Fachbereich, Tel. ….
- ▸ Meide Sonntagseinkäufe und Einkäufe nach 20.00 Uhr!
- ▸ Sei freundlich und rücksichtsvoll den Kolleginnen im Verkauf gegenüber, besonders in der Vorweihnachtszeit! Gerade da haben wir im Handel alle Hände voll zu tun.
▸ Hast Du Lust, Dich an Flashmob-Aktionen zu beteiligen?
Gib uns Deine Handy-Nummer und dann lass uns zu dem per SMS gesendeten Zeitpunkt zusammen in einer bestreikten Filiale, in der Streikbrecher arbeiten, gezielt einkaufen gehen, z. B. so:
- Viele Menschen kaufen zur gleichen Zeit einen Pfennig-Artikel und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich
- Viele Menschen packen zur gleichen Zeit ihre Einkaufswagen voll (bitte keine Frischware!!!) und lassen sie dann stehen.
▸ Schicke ein Fax an Leiharbeitsfirmen, die ihre Beschäftigten als Streikbrecher im Einzelhandel einsetzen lassen und protestiere dagegen !
Die Liste mit den Anschriften/ Faxnummern dieser Firmen werden wir in Kürze auf unserer Homepage http://h…de veröffentlichen.”
Die Beklagte propagierte die „Flashmob-Aktionen” auch in der Presse („j. W.” vom 08./09.2007) und auf einer Kundgebung bzw. einer Demonstration am 07.12.2007.
Am 08.12.2007 führte die Beklagte sodann bei einem Mitglied des Klägers, in der R.-Filiale im Berliner Ostbahnhof, mit ca. 40 bis 50 Personen eine solche „Flashmob-Aktion” durch. Dabei betraten zunächst etwa drei Personen mit Flugblättern, die einen Streikaufruf beinhalteten, die Filiale. Eine der vier in der Filiale anwesenden Arbeitnehmer, eine Kassiererin, wurde an der Kasse angesprochen und zum Streik aufgefordert, ein Flugblatt an einen in der Filiale befindlichen Backofen geklebt und weitere an einer Kasse deponiert. Von den Teilnehmern der Aktion wurden sodann einerseits Pfennigartikel gekauft und andererseits Einkaufswagen mit Ware gefüllt. Es wurden etwa 40 Einkaufswagen größtenteils randvoll gefüllt und dann ohne Begründung bzw. mit dem Vorwand, das Geld vergessen zu haben, stehen gelassen. In einem Fall fuhr eine Frau mit einem mit Kleinstartikeln übervoll gefüllten Wagen an die Kasse. Dort von der Kassiererin befragt, ob sie genügend Bargeld oder eine Scheckkarte dabei habe, gab sie an, bezahlen zu können. Nach Eingabe der Artikel in die Kasse mit einem Wert von 371,78 EUR, und nachdem sie die Artikel wieder in den Einkaufswagen zurückgefüllt hatte, erklärte sie, ihr Geld vergessen zu haben, und stellte den Einkaufswagen an der Kasse ab. Dabei klatschten die anderen Aktionsteilnehmer Beifall und gaben durch laute Zurufe ihr Gefallen kund. Die Akti...