Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts. Rechtswidrigkeit. Verstoß gegen formelles Recht. fehlende Anhörung bei der Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung. Zugunstenverfahren. materielle Gerechtigkeit. keine Kausalitätsprüfung. Beschäftigungslosigkeit. Überschreiten der 15-Stunden-Grenze
Leitsatz (amtlich)
1. Das in § 44 SGB X geregelte Zugunstenverfahren dient grds der Herstellung materieller Gerechtigkeit.
2. Die gesetzliche Wertung des § 42 Satz 2 SGB X gibt jedoch dem Verfahrensfehler einer fehlenden Anhörung bei Erlass des im Zugunstenverfahren zu prüfenden belastenden Verwaltungsakts auch dann Bedeutung und Gewicht, wenn selbst bei stattgefundener Anhörung eine andere Verwaltungsentscheidung nicht hätte getroffen werden dürfen. Der Bescheid ist insoweit formell rechtswidrig, was aber auch die rechtliche Wertung bedingt, dass die Entscheidung zu Unrecht getroffen worden war und nach § 44 SGB X aufzuheben ist.
Normenkette
SGB X §§ 24, 41 Abs. 1 Nr. 3, § 42 S. 2, § 44 Abs. 1 S. 1, § 48 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2, 4, § 50 Abs. 1; SGB III § 138 Abs. 3, § 141 Abs. 2 Nr. 2, § 330 Abs. 3, § 335 Abs. 1, 3; SGG § 178a
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 14.09.2015 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 04.07.2012 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23.08.2012 verpflichtet, die Bescheide vom 12.01.2012 und 07.03.2012 zurückzunehmen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X streitig, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger bewilligtes Arbeitslosengeld (Alg) wegen Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung im Umfang von mehr als 15 Stunden wöchentlich zeitweise aufzuheben und die Erstattung von bezogenem Alg sowie gezahlter Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung festzustellen.
Der 1965 geborene Kläger, serbischer Staatsangehöriger, war bis 31.07.2011 als Maurer-Vorarbeiter abhängig beschäftigt (vgl. Blatt 1 der Beklagtenakte). Nachdem er zum 31.10.2016 gekündigt worden war (Blatt 12/13 der Beklagtenakte) und für die Zeit vom 01.08.2011 bis zum 31.10.2011 wegen Insolvenz des Arbeitgebers freigestellt wurde (vgl. Arbeitsbescheinigung Blatt 6/9 der Beklagtenakte), meldete er sich am 01.08.2011 (Blatt 1 der Beklagtenakte) und am 29.08.2011 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg; der Kläger erhielt das Merkblatt 1 für Arbeitslose, nahm von dessen Inhalt Kenntnis und bestätigte dies mit seiner Unterschrift (Blatt 3/5 der Beklagtenakte).
Die Beklagte bewilligte und zahlte dem Kläger Alg ab dem 01.08.2011. Wegen Ortsabwesenheit von über 3 Wochen war der Leistungsbezug vom 23.08.2011 bis 27.08.2011 unterbrochen (Blatt 44 der Beklagtenakte).
Mit Veränderungsmitteilung vom 14.12.2011 (Blatt 46 der Beklagtenakte) teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er ab 11.11.2011 eine berufliche Tätigkeit als Maurer bei der Firma D. von weniger als 15 Stunden aufgenommen habe.
Die Beklagte forderte den Kläger auf, Bescheinigungen über die tatsächliche Höhe des Nebeneinkommen abzugeben und rechnete vorläufig ab 01.12.2011 täglich 7,83 € aus Nebeneinkommen auf das gezahlte Alg an (Schreiben vom 14.12.2011, Blatt 48 der Beklagtenakte; was mit Bescheid vom 14.12.2011, (Blatt 43/44 der Senatsakte) umgesetzt worden war. Mit Bescheid vom 21.12.2011 (Blatt 45/46 der Senatsakte) änderte die Beklagte das Alg des Klägers erneut ab 01.11.2011 unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen wegen Nebeneinkommen (im November: 3,50 €/Tag; im Dezember 7,83/Tag).
Aus der vorgelegten Bescheinigung über Nebeneinkommen im Monat November (Blatt 50/51 der Beklagtenakte) ergab sich, dass der Kläger 22,5 Arbeitsstunden insgesamt gearbeitet hatte.
Von der Beklagten aufgefordert, legte die M. Bau M. D. , S. (im Folgenden: Arbeitgeber) der Beklagten (Blatt 54/57 der Beklagtenakte) Lohnabrechnungen für Oktober 2011 (gearbeitet in KW 40 am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag jeweils 8,00 Stunden), November (gearbeitet in KW 45 am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag jeweils 7,50 Stunden) und einen Kalender aus dem Jahr 2011 vor.
Mit Bescheid vom 12.01.2012 (Blatt 67/68 der Beklagtenakte) hob die Beklagte die Bewilligung von Alg für den Zeitraum vom 04.10.2011 bis 23.10.2011 auf. Der Kläger sei ab 04.10.2011 wöchentlich 15 Stunden und mehr tätig und damit nicht mehr arbeitslos gewesen. Deshalb sei die Arbeitslosmeldung unwirksam geworden. Da sich der Kläger erst wieder am 24.10.2011 erneut persönlich arbeitslos gemeldet habe, habe er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 04.10.2011 bis 23.10.2011 gehabt. Der überzahlte Betrag i.H.v. 976,00 € sei zu erstatten. Außerdem seien die Beiträge zur Krankenversicherung i.H...