BAG, Urteil vom 30.11.2021, 9 AZR 143/21
Leitsatz (amtlich)
1. Die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs schwerbehinderter Menschen nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren.
2. Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese auch nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.
Sachverhalt
Der Kläger, der seit Oktober 2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt ist, ist bei der Beklagten seit August 2016 beschäftigt. Diese beantragte bei der Bundesagentur für Arbeit die Bewilligung eines Eingliederungszuschusses nach §§ 88ff. SGB III wegen "fachlicher Defizite" des Klägers, welcher mit Bescheid vom 5.9.2016 in Höhe von 50 % des Arbeitsentgelts bewilligt wurde. Im Bewilligungsbescheid war weder der Förderungsgrund genannt noch wurde eine Schwerbehinderung des Klägers in einem der genannten Dokumente erwähnt.
Der Kläger kündigte sein Arbeitsverhältnis zum 15.2.2019. Im Januar 2019 beantragte er erfolglos, 12 Arbeitstage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, davon 2 Urlaubstage aus 2016 und jeweils 5 Urlaubstage aus 2017 und 2018, gewährt zu bekommen. Dem Urlaubsantrag fügte der Kläger eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises bei.
Den Hinweisobliegenheiten eines Arbeitgebers war die Beklagte nicht nachgekommen. Sie hatte den Kläger weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch hatte sie ihn darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne.
Nun klagte der Kläger auf Abgeltung seines Zusatzurlaubs aus den Jahren 2016 bis 2018. Er brachte hierbei vor, dass der Zusatzurlaub nicht verfallen sei, weil die Beklagte ihren Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen war.
Die Entscheidung
Die Klage hatte vor dem Arbeitsgericht Erfolg, das LAG hatte die Klage dagegen abgewiesen.
Auf die Revision des Klägers wurde die Entscheidung des LAG jedoch wieder aufgehoben und an dieses zurückverwiesen.
Das BAG führte aus, dass der Kläger gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a. F. (seit dem 1.1.2018 § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n. F.) einen Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen im Umfang von 2 Arbeitstagen für das Jahr 2016 und jeweils von 5 Arbeitstagen für das Jahr 2017 und 2018 erworben habe. Für die Entstehung von Zusatzurlaubsansprüchen sei es nicht entscheidend, ob die Beklagte von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers Kenntnis hatte.
Im vorliegenden Fall sei jedoch fraglich, ob dieser Urlaub am Ende des jeweiligen Kalenderjahres nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG verfallen sei oder bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch bestand, so dass der Kläger hierauf einen Abgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG erworben habe.
Das Gericht führte hierzu aus, dass die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG grundsätzlich voraussetze, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trage, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage sei, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu müsse er den Arbeitnehmer auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er ihn nicht beantrage (s. hierzu BAG, Urteil vom 19.2.2019, 9 AZR 423/16).
Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Gerichts auch für den Schwerbehindertenzusatzurlaub, so dass die Befristung des Anspruchs auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a. F. bzw. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n. F. grundsätzlich voraussetze, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hatte, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen.
Es begründete dies damit, dass auch wenn der Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub nicht den unionsrechtlichen Vorgaben unterliege, da der nationale Gesetzgeber Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigen, frei regeln könne, seien die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs jedoch nach dem Grundsatz der urlaubsrechtlichen Akzessorietät auf den Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub zu übertragen; denn nach ständiger Rechtsprechung teile der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen grundsätzlich das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs.
Allerdings, so das BAG weiter, sei die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Au...