Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachforderung der Rentenversicherungsträger nach einer Betriebsprüfung. sozialgerichtliches Verfahren. Ausschluss der aufschiebenden Wirkung bei Anforderungsbescheiden. ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes und unbillige Härte iS von § 86a Abs 3 S 2 SGG. Schutzbedürfnis des Arbeitgebers bei Anfrageverfahren
Leitsatz (amtlich)
Der Anwendungsbereich von § 86a Abs 2 Nr 1 SGG wird im Hinblick auf Bescheide über Betriebsprüfungen gemäß § 28p Abs 1 S 5 SGB 4 durch § 7a Abs 7 S 1 SGB 4 nicht berührt.
Orientierungssatz
1. Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung iS von § 86a Abs 3 S 2 SGG bestehen nur dann, wenn ein Erfolg des Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg, da eine gerichtliche Entscheidung das Regel-Ausnahme-Verhältnis und die darin liegende gesetzliche Risikoverteilung zu Lasten des Betroffenen unterliefe, setzte sie die Vollziehung bereits dann aus, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wahrscheinlich wie der Misserfolg, der Ausgang des Hauptsacheverfahrens also offen ist. Eine unbillige Härte liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die Vollziehung Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und nicht oder nur schwer wieder gutgemacht werden können.
2. Das Anfrageverfahren nach § 7a Abs 1 SGB 4 ist aufgrund der systematischen Zusammenhänge durch eine Betrachtung ex ante geprägt und somit grundsätzlich nur zu Beginn einer Beschäftigung eröffnet (vgl LSG Hamburg vom 16.4.2012 - L 3 R 19/12 B ER und LSG Essen vom 5.11.2008 - L 16 B 7/08 R ER). Es soll nach seinem Sinn und Zweck den gutgläubigen Arbeitgeber schützen (BT-Drucksache 14/1855 S 6). Ein solches Schutzbedürfnis entfällt aber bei demjenigen Arbeitgeber, der für die Beschäftigung eines Arbeitnehmers keine Sozialversicherungsbeiträge abführt, obwohl sich ihm konkrete Anhaltspunkte für die Versicherungspflichtigkeit dieser Beschäftigung aufdrängen mussten. Für eine beitragsrechtliche Honorierung des in der Regel wenigstens fahrlässig handelnden Arbeitgebers ist kein Raum (vgl LSG Hamburg vom 16.4.2012 - L 3 R 19/12 B ER aaO, LSG Essen vom 5.11.2008 - L 16 B 7/08 R ER aaO, LSG Essen vom 20.12.2012 - L 8 R 565/12 B ER und LSG München vom 16.3.2010 - L 5 R 21/10 B ER).
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 27. Mai 2013 aufgehoben. Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Februar 2013 anzuordnen, wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.
III. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 2.444,45 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller und Beschwerdegegner begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen einen im Rahmen einer Betriebsprüfung ergangenen Bescheid der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin.
Der Beschwerdegegner ist Inhaber einer Bäckerei und Konditorei mit drei Filialen. Während der Zeit vom 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2011 war Frau M… Z… für den Beschwerdegegner tätig. Sie war im streitgegenständlichen Zeitraum Inhaberin der Firma Pl…, deren Geschäftsgegenstand der "Vertrieb von Kinderspielzeug sowie über Internet" war (Gewerbe-Ummeldung vom 6. Juni 2006). Diese Tätigkeit wurde durch einen Existenzgründungszuschuss der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Für die Zeiten vom 1. Januar 2008 bis 30. Juni 2010 und vom 1. Juni 2011 bis 30. September 2011 erstellte "P… Frau M… Z…" an die "Bäckerei W…" adressierte monatliche Rechnungen für "Arbeitsleistung/Dienstleistung". Eine Gesprächsnotiz der Beschwerdeführerin vom 12. Juni 2012 über ein Telefonat mit der Ehefrau des Beschwerdegegners lautet wie folgt:
"Inhalt:
Ich fragte Frau W…, wer auf dem Konto Fremdleistungen 3100 (2008-2011) gebucht ist.
Es handelt sich um die Verkaufstätigkeit von Frau J… Z….
Frau Z… (eine Bekannte aus der Nachbarschaft) ist selbstständig (hat eigenes Gewerbe) und hat regelmäßig für Frau W… Waren aus dem Sortiment der Bäckerei als verkauft wie jede andere Verkäuferin des Unternehmens auch.
Weil sie für Frau Z… keine Abgaben zahlen muss, hatte sie einen höheren Stundenlohn als die angestellten Mitarbeiterinnen, so Frau W…. Nach der Geburt ihres Kindes 2011 wollte Frau Z… dann lieber angestellt werden."
Mit Schreiben vom 4. Juli 2012 bestätigte der Beschwerdegegner, für die bis September 2011 von Frau Z… erbrachten "Dienstleistungen im Bereich Verkauf" sei kein schriftlicher Vertrag geschlossen worden. Frau Z… sei von Januar 2008 bis Juli 2010 durchschnittlich 116,85 Stunden monatlich und von Juni 2011 bis September 2011 durchschnittlich 30,25 Stunden monatlich für die Bäckerei des Beschwerdegegners tätig gewesen. Daraus sei erkennbar, dass bereits unter der Annahme einer 40-Stunden-Arbeitswoche tatsächlich auch genügend Zeit für die Erledigung von Aufträgen für andere Auf...