Rz. 2
Nach Art. 3 Abs. 3 GG darf ein Mensch wegen seiner Behinderung nicht benachteiligt werden. Neben diesem Ziel folgt § 1 dem besonderen Anliegen, Menschen mit Behinderung bzw. drohender Behinderung zwecks Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben besondere Rechte zu gewähren. Diese Rechte orientieren sich an der schulischen, beruflichen und sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit – und zwar im Vergleich zu einem gesunden Menschen. Dazu zählt auch, dem betroffenen Menschen so weit wie möglich ein barrierefreies Leben zu ermöglichen.
Das SGB IX legt besonderen Wert auf die Selbstbestimmung sowie die volle wirksame und gleichberechtigte Teilhabe des betroffenen Menschen durch besondere Förderungen/Unterstützungen (Leistungen). Hierzu 2 Beispiele:
Beispiel 1:
Gemäß § 1 besteht die Pflicht, alle Menschen mit Behinderung durch einen möglichst weitgehenden Ausgleich ihrer Behinderung in Schule, Beruf und Gesellschaft zu integrieren. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, z. B. Menschen mit Behinderung durch die Versorgung mit Hilfsmitteln oder sonstige Leistungen eine möglichst selbstständige Lebensführung unter Berücksichtigung des allgemeinen Grundbedürfnisses (z. B. selbstständiges Wohnen) zu ermöglichen (BSG, Urteil v. 18.6.2014, B 3 KR 8/13 R). Die Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilhabe umfasst auch die möglichst weitgehende selbstständige Eigenversorgung (essen, waschen, baden, Hygiene, Versorgung des eigenen Haushalts usw.) und die barrierefreie Mobilität.
Beispiel 2:
Auch ein weitergehender Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen des z. B. hörgeschädigten Menschen mit dem Hörvermögen gesunder Menschen löst ein Recht auf Leistungen aus, wenn es sich dabei nicht nur um bloße Komfortverbesserungen, sondern um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens geht. Bezüglich der Frage, ob auch eine kleine Steigerung des Hörvermögens einen Leistungsanspruch auslöst, ist ein großzügiger Maßstab anzulegen (vgl. hierzu auch BSG, Urteil v. 7.5.2020, B 3 KR 7/19 R, sowie LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 14.10.2022, L 16 KR 336/21).
Auf den aufenthaltsrechtlichen Status des behinderten bzw. von Behinderung bedrohten Menschen kommt es nicht an (BSG, Urteil v. 29.4.2010, B 9 SB 2/09 R).
Rz. 3
Stellt der Versicherte wegen einer eingetretenen oder drohenden Behinderung einen Antrag auf Sozialleistungen, ist dieser zugleich auch als Antrag auf eine Teilhabeleistung i. S.d. SGB IX zu werten (vgl. §§ 9 und 10). Das bedeutet: ein einmal gestellter Antrag ist umfassend, d. h. auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen und Anspruchsgrundlagen hin zu prüfen (BSG, Urteil v. 24.1.2013, B 3 KR 5/12 R, sowie BSG, Beschluss v. 3.2.2015, B 13 R 261/14 B).
Bei der Antragstellung gelten also für die Rehabilitationsträger die allgemeinen sozialrechtlichen Grundsätze der Amtsermittlung nach § 20 SGB X sowie das Prinzip der Meistbegünstigung. Aufgrund des Prinzips der Meistbegünstigung ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt. Sollten verschiedene Teilhabeleistungen in Betracht kommen, sind diese grundsätzlich in ihrer Gesamtheit als Gegenstand des Antrags aufzufassen (§ 5 Abs. 1 und 3 GE Rehaprozess, Fundstelle: Rz. 18).
Zwecks Erreichung des Rehabilitations- bzw. Teilhabeerfolgs ist es vom Gesetzgeber durchaus gewollt, dass mehrere Rehabilitationsträger gleichzeitig oder zeitlich hintereinander mit ihren Leistungen eintreten, weil die meisten Rehabilitationsträger nur für bestimmte Leistungsgruppen (§ 5) – also für rehabilitationsträgerspezifische Teilhabeleistungen – zuständig sind. Deshalb haben die Rehabilitationsträger bei der Antragsbearbeitung auch andere Rehabilitationsträger zu beteiligen bzw. hinzuzuziehen, wenn die Möglichkeit besteht, dass auch andere Rehabilitationsträger leistungsverpflichtet werden können (BSG, Urteil v. 24.1.2013, a. a. O.).
Rz. 4
Das SGB IX unterteilt sich seit dem 1.1.2018 in 3 Teile:
Im 1. Teil (§§ 1 bis 89) wird das gesamte Reha- und Teilhaberecht geregelt. Es umfasst neben Begriffsdefinitionen, Verfahrensvorschriften und Handlungs- sowie Beratungsverpflichtungen auch die Leistungsspektren der Rehabilitationsträger mit Ausnahme der Leistungen der Eingliederungshilfe. In diesem Rahmen regelt Teil 1 des SGB IX insbesondere die
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§§ 42 ff.),
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 49 ff.) sowie
- ergänzende Leistungen wie Übergangsgeld, Haushaltshilfe, Reisekosten, Rehabilitationssport usw. (§ 64).
Im 2. Teil (§§ 90 bis 150) wird das Recht der Eingliederungshilfe (ehemalige Eingliederungshilfe nach dem SGB XII) geregelt. Die wesentlichen Teile betreffen
- Leistungen zur Teilhabe an...