0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Das trägerübergreifende Rehabilitations-/Behindertenrecht wurde im Jahr 1974 erstmals durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (BGBl. I 1974 S. 1881) eingeführt. Als Rechtsgrundlage dienten unterschiedliche rehabilitationsträgerspezifische Gesetze. Das bis dahin unübersichtliche Rehabilitations- und Behindertenrecht fasste der Gesetzgeber mit der Einführung des SGB IX (BGBl. I 2001 S. 1046) zum 1.7.2001 zusammen und entwickelte es fort. Gleichzeitig stärkte er die Rechte der Menschen mit Behinderung bzw. drohender Behinderung. In diesem Zusammenhang trat auch § 1 zum 1.7.2001 in Kraft (Art. 68 SGB IX, BGBl. a. a. O.)
Durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) wurde § 1 zum 1.1.2018 dem aktuellen Sprachgebrauch angepasst. Außerdem regelte der Gesetzgeber zusätzlich, dass nicht nur den Bedürfnissen von Frauen und Kindern mit Behinderung bzw. drohender Behinderung, sondern auch den besonderen Bedürfnissen seelisch behinderter bzw. von Behinderung bedrohten Menschen besonders Rechnung zu tragen ist. In der Gesetzesbegründung zu dem ab 1.1.2018 geltenden Recht (BR-Drs. 428/16 S. 222/223) wird zusätzlich ausdrücklich klargestellt, dass bei der Leistungsgewährung grundsätzlich immer der behinderte Mensch in seiner jeweiligen Lebenslage und seiner individuellen Beeinträchtigung berücksichtigt werden muss. Das gilt ausdrücklich auch dann, wenn Unterstützungsleistungen an Eltern mit Behinderungen gewährt werden, die oftmals als "Elternassistenz" und "begleitete Elternschaft" bezeichnet werden.
1 Allgemeines
Rz. 2
Nach Art. 3 Abs. 3 GG darf ein Mensch wegen seiner Behinderung nicht benachteiligt werden. Neben diesem Ziel folgt § 1 dem besonderen Anliegen, Menschen mit Behinderung bzw. drohender Behinderung zwecks Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben besondere Rechte zu gewähren. Diese Rechte orientieren sich an der schulischen, beruflichen und sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit – und zwar im Vergleich zu einem gesunden Menschen. Dazu zählt auch, dem betroffenen Menschen so weit wie möglich ein barrierefreies Leben zu ermöglichen.
Das SGB IX legt besonderen Wert auf die Selbstbestimmung sowie die volle wirksame und gleichberechtigte Teilhabe des betroffenen Menschen durch besondere Förderungen/Unterstützungen (Leistungen). Hierzu 2 Beispiele:
Beispiel 1:
Gemäß § 1 besteht die Pflicht, alle Menschen mit Behinderung durch einen möglichst weitgehenden Ausgleich ihrer Behinderung in Schule, Beruf und Gesellschaft zu integrieren. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, z. B. Menschen mit Behinderung durch die Versorgung mit Hilfsmitteln oder sonstige Leistungen eine möglichst selbstständige Lebensführung unter Berücksichtigung des allgemeinen Grundbedürfnisses (z. B. selbstständiges Wohnen) zu ermöglichen (BSG, Urteil v. 18.6.2014, B 3 KR 8/13 R). Die Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilhabe umfasst auch die möglichst weitgehende selbstständige Eigenversorgung (essen, waschen, baden, Hygiene, Versorgung des eigenen Haushalts usw.) und die barrierefreie Mobilität.
Beispiel 2:
Auch ein weitergehender Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen des z. B. hörgeschädigten Menschen mit dem Hörvermögen gesunder Menschen löst ein Recht auf Leistungen aus, wenn es sich dabei nicht nur um bloße Komfortverbesserungen, sondern um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens geht. Bezüglich der Frage, ob auch eine kleine Steigerung des Hörvermögens einen Leistungsanspruch auslöst, ist ein großzügiger Maßstab anzulegen (vgl. hierzu auch BSG, Urteil v. 7.5.2020, B 3 KR 7/19 R, sowie LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 14.10.2022, L 16 KR 336/21).
Auf den aufenthaltsrechtlichen Status des behinderten bzw. von Behinderung bedrohten Menschen kommt es nicht an (BSG, Urteil v. 29.4.2010, B 9 SB 2/09 R).
Rz. 3
Stellt der Versicherte wegen einer eingetretenen oder drohenden Behinderung einen Antrag auf Sozialleistungen, ist dieser zugleich auch als Antrag auf eine Teilhabeleistung i. S.d. SGB IX zu werten (vgl. §§ 9 und 10). Das bedeutet: ein einmal gestellter Antrag ist umfassend, d. h. auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen und Anspruchsgrundlagen hin zu prüfen (BSG, Urteil v. 24.1.2013, B 3 KR 5/12 R, sowie BSG, Beschluss v. 3.2.2015, B 13 R 261/14 B).
Bei der Antragstellung gelten also für die Rehabilitationsträger die allgemeinen sozialrechtlichen Grundsätze der Amtsermittlung nach § 20 SGB X sowie das Prinzip der Meistbegünstigung. Aufgrund des Prinzips der Meistbegünstigung ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt. S...