BAG, Urteil vom 26.11.2020, 8 AZR 59/20
Leitsätze (amtlich)
Die in § 82 Satz 2 SGB IX (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung) bzw. § 165 Satz 3 SGB IX (in der ab dem 1.1.2018 geltenden Fassung) bestimmte Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers, schwerbehinderte Stellenbewerber/innen zum Vorstellungsgespräch einzuladen, gehört zu den Pflichten des Arbeitgebers, mit denen kein individueller Anspruch bzw. kein individuelles Recht der jeweiligen schwerbehinderten Bewerber/innen auf eine Einladung korrespondiert, auf den bzw. auf das diese rechtswirksam verzichten könnten.,
Sachverhalt
Die Klägerin des Falles ist schwerbehindert. Sie bewarb sich unter Hinweis darauf, allerdings ohne Angabe zum Grad der Behinderung (GdB), im November 2017 bei der beklagten Stadt auf eine ausgeschriebene Stelle als Sachbearbeiterin im Jugendamt. Zudem bat sie im Bewerbungsschreiben, sie zum Vorstellungsgespräch nur dann einzuladen, wenn sie in die engere Wahl genommen werde, da ihres Erachtens alles andere "keinen Sinn mache". Als sie dann tatsächlich eine Absage erhielt, ohne zuvor zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden zu sein, machte sie erfolglos die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend und erhob schließlich Klage. Sie vertrat die Auffassung, die Beklagte habe gegen die Vorgaben des AGG und des SGB IX verstoßen und sie somit wegen ihrer (Schwer-)Behinderung benachteiligt, insbesondere da sie entgegen der Vorgabe in § 82 Satz 2 SGB IX a. F. bzw. § 165 Satz 3 SGB IX n. F. nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei. Einen Verzicht darauf sehe das Gesetz nicht vor und sie habe auch keinen Verzicht erklärt. Die Beklagte hat dagegen die Auffassung vertreten, dass sie nicht verpflichtet gewesen sei, die Klägerin zum Vorstellungsgespräch einzuladen, da diese zum einen entgegen den Vorgaben der Rechtsprechung den GdB nicht mitgeteilt und zudem in ihrem Bewerbungsschreiben wirksam auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch verzichtet habe.
Die Entscheidung
Die Klage hatte vor dem BAG Erfolg; der Klägerin wurde wegen Benachteiligung aufgrund der Behinderung gem. § 15 Abs. 2 AGG eine Entschädigung in Höhe von 3.581,79 EUR zugesprochen. Nach Auffassung des Gerichts hätte die fachlich nicht offensichtlich ungeeignete Klägerin gem. § 165 Satz 3 n. F. SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen.
Entgegen der Ansicht der Beklagten sei die Mitteilung des GdB nicht erforderlich. Das BAG begründete dies u. a. damit, dass der Begriff der "Schwerbehinderung" ein Rechtsbegriff sei, dem im Rechtsverkehr, vor allem im Arbeits- und Sozialrecht, eine feste Bedeutung zukomme; denn der Begriff der Schwerbehinderung sei in § 2 Abs. 2 SGB IX gesetzlich definiert. Hiernach seien Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliege. Weise ein/e Bewerber/in im Zusammenhang mit einer Bewerbung darauf hin, "schwerbehindert" zu sein, sei deshalb grds. davon auszugehen, dass der Begriff i. S. d. in § 2 Abs. 2 SGB IX gegebenen Definition verwendet wurde und damit beim Bewerber mindestens ein GdB von 50 vorliege.
Weiter führte das Gericht aus, dass die Klägerin nicht rechtswirksam auf die in § 82 Satz 2 SGB IX a. F. bzw. § 165 Satz 3 SGB IX n. F. vorgesehene Einladung verzichten könne, denn die hierin bestimmte Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderte/n, nicht offensichtlich fachlich ungeeignete/n Bewerber/in zum Vorstellungsgespräch einzuladen, gehöre zu den Pflichten, mit denen kein individueller Anspruch bzw. kein individuelles Recht des schwerbehinderten Bewerbers/der schwerbehinderten Bewerberin auf eine Einladung korrespondiere, auf den bzw. das diese/r überhaupt verzichten könne. Dies ergebe die Auslegung von § 82 Satz 2 SGB IX a. F. bzw. § 165 Satz 3 SGB IX n. F. unter Berücksichtigung des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs und der Entstehungsgeschichte der Bestimmung. Soweit in einer früheren Entscheidung ausgeführt wurde, § 82 Satz 2 SGB IX a. F. gebe dem einzelnen schwerbehinderten Bewerber einen "Individualanspruch" auf Einladung zu einem Vorstellungsgespräch (BAG, Urteil v. 24.1.2013, 8 AZR 188/12), hält das BAG hieran nicht fest.
Weiter führte das Gericht aus, dass der Umstand, dass die Beklagte die Klägerin nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat, die Vermutung i. S. v. § 22 AGG begründe, dass die Klägerin im Stellenbesetzungsverfahren wegen ihrer Schwerbehinderung benachteiligt wurde. Die Beklagte habe keine Tatsachen vorgetragen, die diese Vermutung widerlegt hätten.
Auch sei es der Klägerin nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens nicht deshalb verwehrt, sich im vorliegenden Entschädigungsverfahren auf die durch die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründete Kausalitätsvermutung zu berufen, weil sie in ihrer Bewerbungs-E-Mail die Bitte geäußert hatte, sie nur dann zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie in die engere Wahl genommen würde...