Rz. 70
Ab 1.7.2001 ist § 10 Abs. 2 Nr. 4 neu gefasst und an den Sprachgebrauch des SGB IX angepasst worden. Ohne Altersgrenzen sind Kinder danach familienversichert, wenn sie als Menschen mit Behinderungen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) außerstande sind, sich zu unterhalten. Nach der Definition des § 2 Abs. 1 SGB IX, auf die verwiesen wird, weisen Menschen eine Behinderung auf, wenn sie körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern. Die Behinderung unterscheidet sich von der Krankheit regelmäßig dadurch, dass sie nicht heilbar ist. Auch ein Rückstand in der geistigen Entwicklung kann nach dieser Definition eine Behinderung sein (a. A. zum früheren Recht, vgl. BSG, Urteil v. 31.1.1979, 11 RA 19/78).
Rz. 71
Für die Familienversicherung wird weiterhin vorausgesetzt, dass infolge der Behinderung die Fähigkeit fehlt, sich selbst zu unterhalten. Daher kommen hier nur Behinderungen in Betracht, welche die Erwerbsfähigkeit beeinflussen. Dieses Ausmaß der Behinderung sowie die Kausalität für die Unfähigkeit für den Selbstunterhalt müssen im Einzelfall positiv festgestellt sein. Der Begriff des "Außerstandeseins", sich selbst zu unterhalten, ist mit dem eines aufgehobenen Leistungsvermögens i. S. d. gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 1.10.2020, L 28 KR 373/18). Ob Unterhaltsfähigkeit vorliegt, bestimmt sich nach dem Unterhaltsbedarf. Eigene Einkünfte können diesen Unterhaltsbedarf ausschließen.
Rz. 72
Nach der alten Rechtslage wurde für die zeitlich unbegrenzte Familienversicherung von Kindern vorausgesetzt, dass die Behinderung bereits zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind nach den allgemeinen Altersgrenzen des § 10 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 tatsächlich familienversichert war. Trat die Behinderung erst zu einer Zeit ein, in der eine Familienversicherung nicht mehr bestand, führte dies nicht zu einer altersunabhängigen Familienversicherung (BSG, Urteil v. 30.8.1994, 12 RK 14/93). Wegen der geforderten Gleichzeitigkeit der Behinderung und einer Familienversicherung nach § 10 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 bestand auch keine altersunabhängige Familienversicherung für Kinder, wenn zum Zeitpunkt der Begründung der Stammversicherung die Familienversicherung nach den allgemeinen Altersgrenzen des § 10 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 bereits ausgeschlossen war. Durch Art. 1 Nr. 6 des TSVG wird mit Wirkung zum 11.5.2019 für den Zeitpunkt des Vorliegens der Behinderung nunmehr daran geknüpft, dass diese zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind innerhalb der Altersgrenzen nach § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 familienversichert war oder die Familienversicherung nur wegen einer Vorrangversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ausgeschlossen war. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die Behinderung, die das Kind am Selbstunterhalt hindert, innerhalb der Altersgrenzen von § 10 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 eingetreten sein muss.
Rz. 72a
Unterschiedlich wird die Frage beantwortet, ob auch die Fähigkeit des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt innerhalb der Altersgrenzen eingetreten sein muss. Gegen eine zeitliche Begrenzung spricht dabei zunächst der eindeutige Wortlaut, der allein an "die Behinderung" anknüpft. Zudem gebiete § 2 Abs. 2 SGB I bei der Auslegung sozialrechtlicher Normen eine möglichst weitgehende Verwirklichung sozialer Rechte (so Felix, KrV 2021, 95). Demgegenüber wird aber auch vertreten, dass es unter Berücksichtigung von Art. 3 GG nicht erheblich sein darf, ob bereits von Kindesbeinen an eine geringfügige Behinderung vorlag, wenn im 40. Lebensjahr – oder noch später – eine schwere psychische Erkrankung einsetzt. Ebenso müsse es dann konsequent unerheblich sein, ob eine (kausale) Beziehung zwischen früherem GdB und einem Jahrzehnte später eintretenden "Außerstandesein" vorliegt (Ulmer, in: BeckOK SozR, 73. Ed. 1.6.2024, SGB V, § 10 Rz. 26). Die letztgenannte Auffassung erscheint vorzugswürdig, da keine Gründe ersichtlich sind, einen längst eigenständig Versicherten über das Einführen einer Altersgrenze dann doch wieder in den Bereich der Familienversicherung aufzunehmen. Anderenfalls liefe gerade die Begrenzung leer.