Rz. 25
In Ausübung seiner Rechte muss der Arbeitnehmer handeln. Dies kann grds. in einem tatsächlichen und rechtlichen Verhalten jeder Art bestehen; eine besondere rechtliche Qualifizierung wird nicht vorausgesetzt. Eine Rechtsausübung in diesem Sinne kann nicht nur in der Geltendmachung von Ansprüchen bestehen, sondern auch in der Wahrnehmung sonstiger Rechtspositionen.
Von § 612a BGB wird folglich auch die Ausübung von Grundrechten erfasst, soweit sie im Verhältnis zum Arbeitgeber rechtserheblich sind. Dazu gehören insbesondere auch das von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG gewährleistete Bestätigungsfreiheit.
Allerdings wird vertreten, dass ein ganz allgemeines Verhalten ausscheide, das zu einem konkreten Rechtssatz keinerlei Bezug hat. So handele es sich nicht schon um eine Rechtsausübung, wenn der Arbeitgeber lediglich den Wunsch äußert, mit dem Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag zu ändern und dieser dem Wunsch nicht nachkommt; eine daraufhin ergriffene Maßnahme des Arbeitgebers, die in rechtlich zulässiger Weise die einseitige Durchsetzung des Änderungswunschs, z. B. durch Änderungskündigung, vorbereiten soll, kann danach auch nicht gegen § 612a BGB verstoßen.
Im Einzelfall wird uneinheitlich beantwortet, ob eine Rechtsausübung vorliegt. Im Zusammenhang mit der Mitteilung einer bestehenden Erkrankung wird teilweise angenommen, eine solche Mitteilung stelle keine Rechtsausübung dar.
So entschied das LAG Rheinland-Pfalz in einem Fall, in dem sich der vierjährige Sohn des alleinerziehenden Arbeitnehmers nach ärztlicher Bescheinigung länger als vorgesehen im Krankenhaus aufhalten und durch den Arbeitnehmer betreut und beaufsichtigt werden musste. An dem Tag, an dem der Arbeitnehmer dies dem Arbeitgeber per Fax mitteilte und die Bescheinigung übermittelte (gegen 13:50 Uhr), kündigte der Arbeitgeber (gegen 17:00 Uhr). Der Arbeitnehmer mache, so das LAG Rheinland-Pfalz a. a. O., kein Recht geltend, weil er wegen der Erkrankung des Kindes nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet sei, da die Arbeitspflicht nach § 45 Abs. 3 SGB V entfallen sei. Daher stelle seine Mitteilung keine Rechtsausübung dar. Insoweit bestehe kein Unterschied zu dem Fall, dass der Arbeitnehmer selbst erkrankt sei; auch dann fehle es, da keine Arbeitsverpflichtung bestehe, an einer Rechtsausübung.
Das BAG entschied, die Kündigung im bloßen zeitlichen Zusammenhang mit der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründe nicht die Annahme eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot. Ob das Fernbleiben von der Arbeit unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überhaupt eine Rechtsausübung darstellt, ließ das BAG ausdrücklich offen.
In der Kommentarliteratur wird das Fernbleiben von der Arbeit wegen Erkrankung des Kindes als Rechtsausübung nach § 45 Abs. 1 SGB V angesehen. In einer anderen Entscheidung aus dem Jahr 2021 entschied das BAG, eine Kündigung "aus Anlass einer Krankmeldung ist demnach nur dann eine unzulässige Maßregelung, wenn gerade das zulässige Fernbleiben von der Arbeit sanktioniert werden soll. Will der Arbeitgeber dagegen für die Zukunft erwarteten Folgen weiterer Arbeitsunfähigkeit, insbesondere (neuerlichen) Betriebsablaufstörungen, vorbeugen, fehlt es an einem unlauteren Motiv für die Kündigung". Dies legt das Verständnis nahe, eine Krankmeldung komme als maßregelungsfähige Rechtsausübung in Betracht.
In der Tat spricht viel dafür, die "Krankmeldung" als Geltendmachung des Rechts, der Arbeit bei Fortzahlung fernbleiben zu dürfen, aufzufassen. Auch dass – z. B. wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit – keine Arbeitsverpflichtung besteht, schließt nach hier vertretener Auffassung eine Rechtsausübung i. S. v. § 612a BGB nicht aus. Das ausgeübte Recht dürfte dann in der Ablehnung der Erbringung der Arbeitsleistung bestehen. Entscheiden dürfte sich die Frage, ob eine Maßregelung vorliegt, vielmehr bei der Kausalität zwischen Rechtsausübung und Maßnahme (Rz. 27 ff.): Auch wenn der Arbeitnehmer eine Berechtigung zum Fernbleiben von der Arbeit für sich in Anspruch nimmt, bleibt möglich, dass der Arbeitgeber nicht ausschließlich wegen des Fernbleibens, sondern naheliegenderweise aus dem Grund kündigt, weil er "für die Zukunft zu erwartenden Folgen", insbesondere "Betriebsablaufstörungen", vorbeugen will. Mit vergleichbarer Argumentation wurde die Maßregelung einer Kündigung verneint, die der Arbeitgeber eines Kleinbetriebs erklärt hatte, weil er "krankschreibungsbedingt eine zuverlässige Einsatzplanung als nicht mehr gewährleistet" erachtete und er "eine derartige Zuverlässigkeit" für nicht tragbar hielt. Diese differenzierende Betrachtung überzeugt. Im Ergebnis wird daher in Fällen wie diesen selbst dann, wenn das Fernbleiben von der Arbeit unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entgegen der in vielen LAG-Entscheidungen vertretenen Auffassung eine Rechtsausübung sein sollte, letztlich keine ...