Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 885
Im Rahmen der Berücksichtigung der Altersstruktur besteht für den Arbeitgeber die Möglichkeit, die vergleichbaren Arbeitnehmer in verschiedene Altersgruppen einzusortieren, um so die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs i. S. v. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG zu gewährleisten. So wird vermieden, dass die Sozialauswahl zwischen sämtlichen in Betracht kommenden Arbeitnehmern durchgeführt werden muss, da eine Auswahl innerhalb der gebildeten Altersgruppen erfolgen kann. Dies soll nach der Rechtsprechung des BAG aber nur dann angezeigt sein, wenn die Altersgruppenbildung dazu führt, dass die bestehende Altersstruktur gewahrt bleibt. Nach der Rechtsprechung dient die Altersgruppenbildung aber nicht nur einem reinen Arbeitgeberinteresse zur Sicherung der Personalstruktur. Vielmehr kommt es als sozialpolitisches Ziel auch der Gesamtheit der Belegschaft zugute und ist als legitimes Ziel der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geeignet, eine Ungleichbehandlung nach Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG bzw. § 10 AGG zu rechtfertigen.
Denkbar ist z. B. eine Altersgruppenbildung in Dekaden, sodass also jeweils Arbeitnehmer bis zum vollendeten 20., 30., 40., 50. und 57. Lebensjahr, bzw. Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr bereits vollendet haben, eine Vergleichsgruppe bilden. Allerdings ist eine starre Altersgruppenbildung in 10-Jahres-Schritten nicht zwingend, da lediglich ein in der Sache begründetes plausibles proportionales System zu fordern ist. Eine solche Gruppenbildung bietet nach Ansicht des BAG eine besondere Gewähr für eine sachgerechte Lösung unter Berücksichtigung der betrieblichen und arbeitnehmerseitigen Interessen. Eine enger gestaffelte Altersgruppenbildung – in Abständen von 5 Lebensjahren – hielt das LAG Düsseldorf in einer zuvor ergangenen Entscheidung für "noch vertretbar." Das BAG hat diese Rechtsprechung bestätigt und entschieden, dass der Arbeitgeber bei der Bildung der Altersgruppen einen gewissen Beurteilungsspielraum hat. Die Bildung von Altersgruppen in Schritten von 5 Jahren ist trotz damit einhergehender "Verzerrungen" nach Ansicht des BAG zulässig. Als zulässig wertete das BAG – schon nach Inkrafttreten des AGG, allerdings bezogen auf eine Kündigung, die vor Inkrafttreten des AGG ausgesprochen wurde – auch die Altersgruppenbildung in 3 Dekaden: 30–40 Jahre/41–50 Jahre/51–60 Jahre.
Rz. 886
Auch unter Berücksichtigung des AGG erklärte das BAG die Bildung von Altersgruppen für zulässig (vgl. auch Rz. 840). Zwar liegt auch hier eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Alters vor, diese ist jedoch gerechtfertigt: Sie wirkt der Überalterung des Betriebs entgegen und relativiert damit zugleich die Bevorzugung älterer Arbeitnehmer. Die Frage ist mittlerweile allerdings vom Arbeitsgericht Siegburg auch dem EuGH vorgelegt worden. Eine Entscheidung des EuGH hierzu gibt es jedoch nicht, da das Verfahren durch einen Vergleich beendet wurde. Ob jedenfalls ein berechtigtes betriebliches Bedürfnis am Erhalt einer ausgewogenen Altersstruktur besteht, ist nach Ansicht des Gerichts immer im Hinblick auf die speziellen Betriebszwecke und ggf. deren Umsetzung zu entscheiden. Sofern jedoch die Anzahl der Entlassungen innerhalb einer Altersgruppe vergleichbarer Arbeitnehmer im Verhältnis zu der Anzahl aller Arbeitnehmer des Betriebes die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, nimmt die Rechtsprechung ein berechtigtes aber widerlegbares betriebliches Interesse an der Beibehaltung der Altersstruktur an. Bleibt die Anzahl der Kündigungen jedoch unter den Schwellenwerten des § 17 KSchG, so bedarf es von Seiten des Arbeitgebers darüber hinaus eines eingehenden und die nachteiligen Wirkungen einer veränderten Altersstruktur konkret und schlüssig aufzeigenden Vortrages, um ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Sicherung der bestehenden Altersstruktur aufzuzeigen.
Beispiel für eine Altersgruppenbildung
Altersgruppe |
Anzahl Mitarbeiter |
Prozentuale Verteilung |
Anzahl betroffener Mitarbeiter |
≤ 20 Jahre |
0 |
0 % |
0 |
20 bis 24 Jahre |
10 |
2,43 % |
2 |
25 bis 29 Jahre |
51 |
12,41 % |
9 |
30 bis 34 Jahre |
77 |
18,74 % |
13 |
35 bis 39 Jahre |
104 |
25,30 % |
18 |
40 bis 44 Jahre |
85 |
20,68 % |
14 |
≥ 45 Jahre |
84 |
20,44 % |
14 |
Gesamt |
411 |
100,00 % |
70 |
Rz. 887
Bei der Gruppenbildung ist darauf zu achten, dass das Ziel des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG, nämlich der Erhalt einer ausgewogenen Personalstruktur, erreicht werden kann: Sowohl zu große als auch zu kleine Vergleichseinheiten bergen Missbrauchsgefahren und können im Ergebnis zu sozial nicht gerechtfertigten Kündigungen führen. Insofern ist der Arbeitgeber bei der Altersgruppenbildung nicht völlig frei, die Grenze bildet einmal mehr die Willkür. Die vom BAG gebilligte Staffelung in Dekaden kann grds. als Maßstab dienen, ist jedoch nicht in Stein gemeißelt, sondern flexibel: Je mehr Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, desto eher lassen sich kleinere Vergleichsgruppen rechtfertigen.
Rz. 888
Innerhalb der Gruppe der im Rahmen der Sozia...