Rz. 166
Ein Arbeitnehmer, der die Übergabe eines Kündigungsschreibens vereitelt, muss sich im Einzelfall so behandeln lassen, als habe er die Kündigung tatsächlich erhalten. Auf Grundlage der Rechtsprechung des BAG ist dabei aber zwischen dem Zugang der Kündigung und dem Beginn der 3-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG zu differenzieren.
7.3.10.1 Zugang der Kündigung
Rz. 167
Der Arbeitgeber hat häufig ein rechtliches Interesse daran, die Kündigung spätestens an einem bestimmten Termin zu erklären, z. B. vor Ablauf der Probezeit, innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB oder zur Wahrung einer längeren Kündigungsfrist.
Rz. 168
Wenn der Arbeitnehmer in einem solchen Fall eine Verzögerung des Zugangs der Kündigung zu vertreten hat, kann er sich nach Treu und Glauben gem. § 242 BGB nicht auf den verspäteten Zugang der Kündigung berufen. Er muss sich so behandeln lassen, als habe der Arbeitgeber die maßgeblichen Fristen gewahrt. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Arbeitnehmer mit einer Kündigung rechnet, eine Benachrichtigung des Postzustellers in seinem Briefkasten findet und trotzdem das für ihn bei der Post hinterlegte Kündigungsschreiben nicht zeitnah abholt. Der Arbeitnehmer verhält sich auch dann treuwidrig, wenn er in Erwartung einer Kündigung seinen Briefkasten abhängt und das Türschild entfernt. Selbst bei schweren Sorgfaltsverstößen muss sich der Empfänger jedoch nur dann nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als habe ihn die Erklärung erreicht, wenn der Absender alles Erforderliche und ihm Zumutbare getan hat, damit seine Erklärung den Empfänger erreichen konnte. Eine treuwidrige Zugangsvereitelung ist auch anzunehmen, wenn das Kündigungsschreiben dem Arbeitnehmer zum erkennbaren Zwecke der Übergabe angereicht wird und sich der Arbeitnehmer weigert, das Schreiben anzunehmen, indem er zügig den Raum verlässt. Die Darlegungs- und Beweislast für eine treuwidrige Zugangsvereitelung trägt der Arbeitgeber.
7.3.10.2 Beginn der 3-Wochen-Frist
Rz. 169
Nach der Rechtsprechung des BAG soll die 3-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG im Fall der treuwidrigen Verzögerung oder Vereitelung des Zugangs nicht zwangsläufig ab dem Zeitpunkt beginnen, zu dem der Zugang der Kündigung zugunsten des Arbeitgebers fingiert wird. So soll ein Arbeitnehmer, der mit einer Kündigung rechnet, nicht ohne Weiteres verpflichtet sein, im Interesse des Arbeitgebers für einen unverzüglichen Beginn der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG zu sorgen und ein Einschreiben unverzüglich nach Zugang des Benachrichtigungszettels abzuholen. Die Klagefrist würde danach im Einzelfall erst beginnen, wenn der Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben tatsächlich erhält.
Die Rechtsprechung des BAG zum Zugang der Kündigung und zum Beginn der 3-Wochen-Frist im Fall der Zugangsvereitelung überzeugt nicht. Wenn im Einzelfall ein Zugang der Kündigung fingiert wird, muss zu diesem Zeitpunkt auch die 3-Wochen-Frist beginnen. Diese Konsequenz ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 4 Satz 1 KSchG. Darüber hinaus ist der Arbeitnehmer, der den Zugang der Kündigung treuwidrig vereitelt, auch nicht schutzwürdig. Bis zu einer Änderung der Rechtsprechung muss sich die Praxis jedoch auf diesen Wertungswiderspruch einstellen.