Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankheitsbedingte Kündigung
Orientierungssatz
1. Hinweise des Senates: "Negative Prognose verneint bei vielen einmaligen Erkrankungen; Bewertung eines Sachverständigengutachtens".
2. Ein Sachverständigengutachten unterliegt ebenso wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO); der Tatrichter ist daher nicht gehindert, von einem Gutachten abzuweichen. Da der Sachverständige aber dem Richter gerade die Sachkunde vermitteln soll, die ihm selbst auf einem Spezialgebiet fehlt, muß der Richter prüfen, ob er eventuell Zweifel an dem Gutachten ohne jede weitere sachverständige Hilfe zur Grundlage des Urteils machen kann. Das ist eine Ermessensentscheidung. Sie ist revisionsrechtlich dahin zu überprüfen, ob das Berufungsgericht seine eigene Sachkunde ausreichend begründet und sich mit dem Gutachten hinlänglich auseinandergesetzt hat.
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Entscheidung vom 27.01.1992; Aktenzeichen 16 Sa 858/90) |
ArbG Kassel (Entscheidung vom 18.05.1990; Aktenzeichen 5 Ca 37/90) |
Tatbestand
Der Kläger ist seit dem 15. Mai 1973 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilindustrie, in deren Werk in Baunatal mit ca. 20.000 Arbeitnehmern beschäftigt und zwar zuletzt gegen einen Bruttomonatslohn von ca. 3.700,00 DM. Er hat von 1973 bis 1975 als Packer, von 1975 bis 31. Oktober 1988 als Lagerarbeiter (neue Tätigkeitsbezeichnung seit 1980: Kontrolleur), ab 1. November 1988 in der Lagerpflege gearbeitet. Nach der Tätigkeitsbeschreibung eines Kontrolleurs oblag dem Kläger ab 1987 im wesentlichen die Entnahme und Verpackung von Ersatz- und Austauschteilen nach Auftragsunterlagen, die Klärung auftretender Lieferdifferenzen, bei Schnellaufträgen die restlose Beschaffung fehlender Teile sicherzustellen, Identität und Qualitätszustand der Teile zu kontrollieren sowie zugeteiltes Personal anzuleiten und technische Hilfsmittel wie Elektrotransporter und Gabelstapler zu bedienen. In seiner letzten Tätigkeit hat der Kläger nur noch leichteste und einfachste Tätigkeiten, wie das Reinigen von Kartentaschen und das Staubwischen in den Lagerzonen, ausgeführt.
Der Kläger hatte in den Jahren von 1985 bis zur Kündigung im Jahre 1990 folgende krankheitsbedingte Fehlzeiten aus unterschiedlichen Krankheitsursachen aufzuweisen:
Krankheitszeiten Ursache der Krankheiten laut Aufstellung
der Betriebskrankenkasse der Beklagten
1985: 83 Arbeitstage
13.03. - 22.03. rez. LWS-Syndrom
(= 8 Arbeitstage)
13.05. - 28.07. Distorsion li. Handgelenk, Zerrung der HWS
(= 51 Arbeitstage) Fremdkörper re. Auge
16.09. - 17.09.
(= 2 Arbeitstage)
18.10. Gastroenteritis
(= 1 Arbeitstag)
01.11. - 03.12. Defektwunde li. Zeigefinger
(= 21 Arbeitstage)
1986: 57 Arbeitstage
25.02. - 07.03. fieberhafte Grippe - Bronchitis
(= 9 Arbeitstage)
30.04. - 02.05. ak. Gastroenteritis
(= 2 Arbeitstage)
22.05. - 04.07. ak. Gastroenteritis mit Kreislaufsynkope
(= 30 Arbeitstage)
10.11. - 14.11. fieberhafte Grippe, Bronchitis
(= 5 Arbeitstage)
21.11. - 05.12. eitrige Sinubronchitis
(= 11 Arbeitstage)
1987: 77 Arbeitstage
04.03. - 16.06. distale Radiusfraktur li.
(= 70 Arbeitstage)
05.11. - 13.11. fieberhafter Infekt der oberen Luftwege,
(= 7 Arbeitstage) Parasthesien bd. Hände
1988: 140 Arbeitstage
05.02. - 06.03. alte Distorsionsfolgen re. Finger
(= 21 Arbeitstage)
24.05. - 16.09. akutes HWS-Syndrom mit Parasthesien,
(= 82 Arbeitstage) Bandscheibenprotussion C5/C6
(wohl richtig - protrusion)
03.11. - 06.12. Kreislaufstörungen, vegetative Labilität,
(= 23 Arbeitstage) psychogure Reaktion
12.12. - 31.12. ak. Lumbago
(= 14 Arbeitstage)
1989: 122 Arbeitstage
20.02. - 24.02. ak. Nebenhöhlenentzündung
(= 5 Arbeitstage)
10.04. - 28.04. Kontaktdermatitis, Affektionen des Rückens
(= 15 Arbeitstage)
07.06. - 07.07. ak. Laryngitis, Tracheitis, n. n. bez.
(= 23 Arbeitstage) Allergie
06.09. - 08.09. fieberhafter grippaler Infekt, Bronchitis
(= 3 Arbeitstage)
ab 11.09.1989 bis fieberhafter grippaler Infekt, Bronchitis
Kündigungszugang am Thoraxprellung links mit Rippenfraktur
13.01.1990
(= 76 Arbeitstage +
9 Arbeitstage 1990)
Der Kläger war dann nach Kündigungszugang weiter bis zum 12. März 1990 krank.
Der Kläger erhielt seit 1985 für folgende Arbeitstage Lohnfortzahlung:
Jahr Tage Lohnfort- Höhe Lohnfort-
zahlung zahlung in DM ca.
------------------------------------------------
1985 63 12.701,00 DM
1986 56 11.790,00 DM
1987 37 8.342,00 DM
1988 69 16.022,00 DM
(ausschl. der
Lohnfortzahlungs-
kosten für Betriebs-
unfall)
1989 77 17.763,00 DM
Die Beklagte kündigte am 12. Januar 1990 dem Kläger zum 31. März 1990, nachdem der Personalausschuß des Betriebsrates der beabsichtigten Kündigung zuvor zugestimmt hatte. Mit seiner Kündigungsschutzklage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt. Die zurückliegenden Erkrankungen seien nicht geeignet, eine Prognose von in Zukunft zu erwartenden erheblichen Fehlzeiten zu begründen. Es habe sich meist um einmalige Erkrankungen gehandelt, ohne daß ein chronisches Krankheitsbild vorliege. Eine vegetative Labilität sei nicht gegeben. Dies habe letztlich auch der vom Gericht eingesetzte Gutachter bestätigt. Schließlich sei er nach der erstinstanzlich angeordneten Weiterbeschäftigung nicht mehr in erheblichem Umfang arbeitsunfähig krank gewesen. Eine etwaige 1991 aufgetretene Alkoholkrankheit sei für die Beurteilung der Kündigung unerheblich, zumal er ab 7. Juni 1991 freiwillig zur Entgiftung gewesen und ab 1. August 1991 wieder arbeitsfähig sei.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Par-
teien durch die Kündigung der Beklagten vom
12. Januar 1990 nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis nach §§ 9, 10 KSchG aufzulösen.
Sie hat vorgetragen, angesichts der erheblichen Fehlzeiten bei Durchführung leichtester Tätigkeiten sei von einer allgemein labilen Gesundheit des Klägers auszugehen. Seit 1989 leide der Kläger an einer psychischen Erkrankung mit Angstzuständen, von deren absehbarer Heilung sie zum Zeitpunkt der Kündigung nicht habe ausgehen können. Hieraus ergebe sich eine negative Prognose zur Gesundheitsentwicklung des Klägers. Sie verfüge auch über keinen leidensgerechten Arbeitsplatz für den Kläger, die ihm zuletzt zugewiesenen Putztätigkeiten fielen nur sporadisch an und rechtfertigten nicht die Besetzung durch eine vollwertige Arbeitskraft. Aus wirtschaftlichen Gründen sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für sie unzumutbar, weil der Kläger praktisch vollständig abwesend sei und erhebliche Lohnfortzahlungskosten seit 1985 bis zur Kündigung verursacht habe. Die Lohnfortzahlungsbelastung für 300 Arbeitstage an insgesamt 1.070 möglichen Arbeitstagen stelle einen die soziale Rechtfertigung für die personenbedingte Kündigung begründenden Umstand dar.
Das Arbeitsgericht hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Nach Zustellung des Urteils (6. Juni 1990) hat die Beklagte den Kläger weiterbeschäftigt, wobei weniger hohe Fehlzeiten anfielen. Das Landesarbeitsgericht hat - bis auf einen zu weit gehenden Feststellungsantrag - die Berufung zurückgewiesen und den Hilfsantrag abgewiesen.
Mit ihrer Revision hält die Beklagte an ihrem Klageabweisungs- und dem Hilfsantrag fest, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG), denn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung hätten keine objektiven Tatsachen vorgelegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen des Klägers im bisherigen oder in einem erheblichen Umfang rechtfertigen könnten. Zwar seien die krankheitsbedingten Fehlzeiten von 1985 bis zum Kündigungszugang 1990 erheblich gewesen, jedoch könne allein mit den in der Vergangenheit liegenden Fehlzeiten eine Kündigung nicht gerechtfertigt werden. Auf ein der Vergangenheit entsprechendes Erscheinungsbild lasse sich für die Zukunft hier nicht schließen. Zwar läge in häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten der Vergangenheit eine Art Indiz für die Zukunft; diese Indizwirkung indes sei durch die vom Kläger vorgetragene Art der Erkrankungen erschüttert worden. Ungeeignet für die Prognose seien zunächst die unfallbedingten Erkrankungen, die keine Folgewirkungen zeigten, wie auch die zuletzt 1986 aufgetretenen Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes. Auch die Erkrankungen im Rückenbereich, die einen erheblichen krankheitsbedingten Arbeitsausfall nach sich gezogen hätten, seien nach dem 31. Dezember 1988 nicht mehr aufgetreten. Die Erkrankungen der Luftwege seien gleichfalls ohne Erkenntniswert für die Zukunft, weil die zeitliche Dauer der Arbeitsausfälle (1989: 36 Kalendertage; 1987: 9 Kalendertage; 1986: 36 Kalendertage) weder gravierend hoch sei, noch könne hieraus auf eine besondere Gesundheitsanfälligkeit geschlossen werden. Die verbleibenden Kreislaufstörungen, die Kontaktdermatitis und die Rückenaffektionen seien als einmalige, sich nicht wiederholende Erkrankungen für eine negative Prognose ungeeignet. Auf eine besondere Gesundheitsanfälligkeit des Klägers könne allein aufgrund der Erkrankungen an unterschiedlichen Ursachen nicht geschlossen werden.
Auch das ärztliche Sachverständigengutachten habe nicht die Überzeugung erbringen können, daß mit erheblichen krankheitsbedingten Ausfällen des Klägers in Zukunft zu rechnen sei. Nach dem Gutachten habe die Tätigkeit des Klägers keine nachweisbare Einwirkung auf das Krankheitsbild gehabt. Auch die Art der aufgelisteten Krankheitszeiten könne die häufigen Fehlzeiten nicht erklären, obwohl die Länge der Arbeitsunfähigkeitszeiten bei den angegebenen Diagnosen unverhältnismäßig hoch gewesen sei. Wenn bereits unklar sei, warum in der Vergangenheit Krankheitszeiten in bestimmtem Umfang aufgetreten seien, müsse erst recht unklar bleiben, ob diese auch in Zukunft auftreten würden. Schließlich könne aufgrund der Wortwahl des Gutachters, es gäbe "keine sicheren Anhaltspunkte dafür, daß in Zukunft häufige Fehlzeiten auftreten müssen", nicht isoliert mit Fehlzeiten im bisherigen Umfang gerechnet werden, denn das Gutachten besage erkennbar nichts anderes, als daß die zukünftige gesundheitliche Entwicklung des Klägers nicht vorhersehbar, also genauso rätselhaft wie der hohe Anteil krankheitsbedingter Fehlzeiten in der Vergangenheit sei. Auch unter Berücksichtigung des Alters des Klägers könne eine - letztlich unerklärliche - Phase gesundheitlicher Anfälligkeit vorliegen, die für die Zukunft nichts aussage.
II. Diese Würdigung läßt einen revisionserheblichen Fehler nicht erkennen. Die Feststellungen und Würdigungen des Berufungsgerichtes zur negativen Gesundheitsprognose sind nicht zu beanstanden.
1. Bei der Frage, ob eine ordentliche Kündigung gem. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt ist, weil personenbedingte Gründe vorliegen, handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob das angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt Senatsurteil vom 23. September 1992 - 2 AZR 150/92 - nicht veröffentlicht, zu II 1 a der Gründe; davor BAG Urteil vom 28. Februar 1990 - 2 AZR 401/89 - AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II 1 b aa der Gründe).
2. Das Berufungsgericht ist der ständigen Rechtsprechung des Senates zur krankheitsbedingten Kündigung gefolgt (Grundsatzurteil vom 28. Februar 1990 - 2 AZR 401/89 - AP, aaO; ferner Urteil vom 5. Juli 1990 - 2 AZR 154/90 - AP Nr. 26 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) und hat die Sozialwidrigkeit einer wegen häufiger Kurzerkrankungen ausgesprochenen ordentlichen Arbeitgeberkündigung einer Prüfung in drei Stufen unterzogen. Es hat, nachdem es eine erforderliche negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes für nicht begründet erachtete, aus seiner Sicht konsequent, eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen nicht geprüft und eine Interessenabwägung nicht mehr durchgeführt.
a) Die krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers, ihre jeweilige Dauer und die Erkrankungen sind unstreitig. Soweit die Revision sich gegen den Widerspruch im Berufungsurteil zwischen Tatbestand und Entscheidungsgründen wendet, wonach die Erkrankung des Klägers ab 11. September 1989 (irrtümlich angegeben: 1. September) mitursächlich auf einem fieberhaften Infekt, Bronchitis, beruht, was aber rechtlich nicht gewürdigt sei, war der insofern unzutreffende Tatbestand des Landesarbeitsgerichtsurteils (siehe wegen offenbarer Unrichtigkeit gemäß § 319 ZPO von Amtswegen zu berichtigen. Insofern liegt ein schreibtechnischer Übertragungsfehler vor, weil die zusätzliche Krankheitsursache "fieberhafter grippaler Infekt, Bronchitis" in der dem Tatbestand zugrundeliegenden Bescheinigung der Volkswagen-Betriebskrankenkasse vom 8. Februar 1990 für den Zeitraum ab 11. September 1989 nicht aufgeführt war. Offensichtlich hat das Landesarbeitsgericht den Inhalt dieser Bescheinigung vollständig in seinen Tatbestand übernommen, wobei allerdings die Schreibkraft die vorletzte Zeile doppelt abgeschrieben hat, so daß nunmehr der Eindruck entsteht, der Kläger sei nicht nur vom 6. bis 8. September 1989 wegen "fbh. gripp. Infekt, Bronchitis" erkrankt, sondern auch noch vom 11. September 1989 bis 13. Januar 1990: "fbh. gripp. Infekt, Bronchitis, Thoraxprellung links mit Rippenfraktur". Für einen offensichtlichen Übertragungsfehler spricht schon, daß der Kläger kaum drei Monate wegen eines grippalen Infekts erkrankt gewesen sein dürfte. Ferner fehlt ein Komma zwischen den Worten Bronchitis und Thoraxprellung im Tatbestand des Berufungsurteils, obwohl sonst alle Mehrfachkrankheitsursachen in der Aufstellung durch Kommata getrennt werden. Sogar die Schreibfehler sind aus der BKK-Bescheinigung übernommen worden: Bandscheibenprotussion statt Bandscheibenprotrusion. Der Sachvortrag beider Parteien in den Tatsacheninstanzen läßt auch nicht etwa ergänzend erkennen, bei der ab 11. September 1989 bestehenden Arbeitsunfähigkeit sei eine neue zusätzliche Krankheitsursache, nämlich Grippe, hinzugekommen. Der Kläger hat vielmehr im Gegenteil die Erkrankung wegen Erkältung auf den Zeitraum vom 6. bis 8. September 1989 beschränkt und für den Zeitraum ab 11. September 1989 nur von Brustkorbprellung und Rippenfraktur gesprochen, ohne daß die Beklagte dem entgegengetreten ist.
Auch die Revisionsklägerin hat diesen Geschehensablauf als möglich angesehen. Der Senat geht deshalb nach Anhörung der Parteien von dem so richtig gestellten Sachverhalt aus, so daß die diesbezügliche Rüge, in den Urteilsgründen sei ein Teil des Tatbestandes nicht berücksichtigt worden (Grippeerkrankung ab 11. September 1989), unbegründet ist.
b) Die nicht auf Betriebsunfällen beruhenden krankheitsbedingten Fehlzeiten, ihre jeweilige Dauer und ihre Ursachen sind in erster Linie die für die Rechtfertigung der Besorgnis künftiger Erkrankungen maßgebenden Anhaltspunkte. Bei der Bewertung, ob diese Umstände ausreichen, die Annahme künftiger erheblicher Fehlzeiten zu rechtfertigen, steht dem Tatrichter im Rahmen der §§ 144, 286 ZPO ein Ermessensspielraum zu. In der Revisionsinstanz kann nur nachgeprüft werden, ob der Ermessensrahmen für die aus Fehlzeiten abgeleitete Prognose eingehalten worden ist (BAG Urteil vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 - AP Nr. 21 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II 1 der Gründe; BAG Urteil vom 26. Mai 1977 - 2 AZR 201/76 - AP Nr. 14 zu § 102 BetrVG 1972, zu II 3 c und d der Gründe).
Insofern ist zunächst die Annahme des Berufungsgerichtes nicht zu beanstanden, die auf Betriebsunfällen beruhenden krankheitsbedingten Fehlzeiten könnten eine negative Zukunftsprognose nicht rechtfertigen. Der Senat hat dies zuletzt in der Entscheidung vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 - AP, aaO, zu II 1 der Gründe) ausgesprochen, indem er selbst nur auf die nicht auf Betriebsunfällen beruhenden Fehltage abstellte.
Der Senat hat darüber hinaus in dieser Entscheidung (zu II 2 der Gründe) das tatrichterliche Ermessen nach § 286 ZPO als nicht überschritten erachtet, wenn auf einmaligen Ursachen beruhende Fehltage ebenfalls zur Fehlzeitprognose als ungeeignet angesehen werden. Hiernach scheiden nach der Annahme des Berufungsgerichtes von insgesamt 488 bereits 203 Arbeitstage, weil sie unfallbedingt sind und weitere 38 Arbeitstage, weil das Fehlen des Klägers auf einmaligen Krankheitsursachen beruhte, für die Fehlzeitprognose aus. Im Einzelnen betrifft dies nach der Annahme des Berufungsgerichtes die folgenden Krankheitszeiten:
- Thoraxprellung mit Rückenfraktur 1989/1990
- Speichenbruch 1987
- Fremdkörper im Auge 1985
- Kreislaufstörungen 1988
- Kontaktdermatitis und Rückenaffektionen
1989.
c) Das Berufungsgericht hat darüber hinaus widerspruchsfrei und jedenfalls in den Grenzen des tatrichterlichen Ermessens weitere Krankheitsgruppen und deren nachfolgende Fehlzeiten als für die Prognose ungeeignet angesehen. Dabei handelt es sich um die Gruppe der Magen-Darm-Erkrankungen 1985/86 (33 Arbeitstage), weil sie seit letztmalig 1986 nicht mehr aufgetreten sind, und die Gruppe der Erkrankungen im Rückenbereich, einschließlich des "Hexenschusses", weil sie letztmalig 1988 aufgetreten sind (155 Arbeitstage). Diese Würdigung beanstandet die Revision auch nur deswegen, weil einerseits dem Berufungsgericht ein Rechenfehler hinsichtlich der bezeichneten Fehlarbeitstage unterlaufen sei und weil es andererseits das eingeholte Sachverständigengutachten falsch gewürdigt habe. Die Revision rügt aber hinsichtlich des tatsächlich vorhandenen Rechenfehlers nicht, das Berufungsgericht hätte ohne diesen Fehler zu einer anderen rechtlichen Würdigung kommen müssen, was auch unzutreffend wäre, weil sämtliche Krankheitszeiten vom Berufungsgericht tatsächlich in die rechtliche Würdigung einbezogen worden sind.
d) Soweit die Revision geltend macht, das Berufungsgericht habe die Feststellung im Gutachten nicht berücksichtigt, wonach die Länge der Fehlzeiten bei den genannten Diagnosen unverhältnismäßig hoch liege (§ 286 ZPO) ist dies nicht zutreffend. Das Berufungsgericht hat diese Feststellung im Gutachten in seiner Würdigung berücksichtigt (Urteil Seite 23) und dies ist jedenfalls im Rahmen des § 286 ZPO erfolgt.
aa) Zwar unterliegt ein Sachverständigengutachten ebenso wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO); der Tatrichter ist daher nicht gehindert, von einem Gutachten abzuweichen. Da der Sachverständige aber dem Richter gerade die Sachkunde vermitteln soll, die ihm selbst auf einem Spezialgebiet fehlt, muß der Richter prüfen, ob er evtl. Zweifel an dem Gutachten ohne jede weitere sachverständige Hilfe zur Grundlage des Urteils machen kann. Das ist eine Ermessensentscheidung. Sie ist revisionsrechtlich dahin zu überprüfen, ob das Berufungsgericht seine eigene Sachkunde ausreichend begründet und sich mit dem Gutachten hinlänglich auseinandergesetzt hat (Senatsurteile vom 20. Oktober 1970 - 2 AZR 497/69 - AP Nr. 4 zu § 286 ZPO und vom 31. August 1989 - 2 AZR 8/89 - AP Nr. 16 zu § 12 SchwbG zu B II 5 f der Gründe m. w. N.; BGH Urteil vom 5. Juni 1981 - V ZR 11/80 - NJW 1981, 2578).
bb) Das Berufungsgericht hat sein Ermessen nicht bereits deshalb überschritten, weil es den Gutachter nicht von sich aus zur Erläuterung seines Gutachtens aufgefordert hat. Die Beklagte hat eine Anhörung des Gutachters in der Berufungsinstanz nicht beantragt, sondern ihrerseits lediglich darauf hingewiesen, die gutachterlichen Feststellungen müßten richterlich gewürdigt werden (Schriftsatz vom 16. Oktober 1991). Dies ist geschehen, wobei das Berufungsgericht das ihm vorgelegte Gutachten nicht als unvollständig erachtet hat und von ihm auch im Ergebnis nicht abgewichen ist.
Wenn der Gutachter davon ausgeht, "die Art der aufgelisteten Erkrankungen könne die häufigen Fehlzeiten alleine nicht erklären" so gibt er zu erkennen, daß er daneben (selbständig) oder auch zusätzlich (mitursächlich) eine weitere Ursache für die häufigen Fehlzeiten vermutet. Der Gutachter läßt freilich offen, welche Ursache hierfür maßgeblich ist oder in Betracht käme. Er läßt weiter offen, ob er diese Ursachen noch nicht nennen will oder kann, oder ob er sich überhaupt zur Erklärung hierüber aufgefordert sieht. Wenn der Gutachter weiter davon ausgeht, auch die Länge der Arbeitsunfähigkeiten sei bei den genannten Diagnosen unverhältnismäßig hoch, so bezieht er sich erkennbar auf den davorstehenden Satz des Gutachtens mit der Erwähnung der häufigen Fehlzeiten und setzt hierzu die Länge dieser Fehlzeiten in Beziehung. Er wertet die Länge dieser Fehlzeiten danach als unverhältnismäßig hoch, d. h., nicht entsprechend, nicht angemessen für derartige Krankheiten, wie sie den Fehlzeiten des Klägers zugrundelagen, ohne dafür allerdings eine Erklärung - zumal im Hinblick auf die Zukunft - zu geben. Wenn der Gutachter dann mit dem Bemerken schließt, bezüglich des Alkoholkonsums liege sicherlich ein nicht geringes Risikopotential vor, welches unbedingt einer Überwachung bzw. spezieller Führung bedürfe, so mag hier möglicherweise der Schlüssel für manche unerklärliche oder unerklärlich lange Krankheit liegen. Darauf hat die Beklagte sich aber gerade nicht berufen; sie ist insbesondere nicht der Würdigung des Landesarbeitsgerichts entgegengetreten, die im Juni 1991 aufgetretene Alkoholerkrankung könne - weil es sich um einen neuen Kausalverlauf nach dem Kündigungszeitpunkt (12. Januar 1990) handele - für die auf jenen Zeitpunkt abzustellende Prognose nicht herangezogen werden. Die Beklagte hat auch den zweitinstanzlichen Sachvortrag des Klägers nicht bestritten, wonach das "Alkoholproblem" aufgrund einer internen Absprache nicht ins laufende Verfahren eingeführt werden soll. Dann aber erscheint die Schlußfolgerung des Landesarbeitsgerichts umso naheliegender. Ihm ist in seiner freien Beweiswürdigung auch insoweit kein Fehler unterlaufen, als es die gutachterliche Stellungnahme übernommen hat, wonach die Krankheitszeiten, die ihrerseits aus nicht erklärbaren Ursachen unverhältnismäßig lang seien, keinen Rückschluß auf das Auftreten von Krankheiten überhaupt zuließen. Diese Würdigung ist eine der möglichen Interpretationen des Gutachtens, zumal der Gutachter selbst den Schluß zieht, der Untersuchungsbefund ergäbe keine sicheren Anhaltspunkte (bei den bekannten Diagnosen), daß häufige Fehlzeiten wenigstens nicht aus medizinisch belegbaren Gründen in Zukunft auftreten müßten. Wenn es nach dem Gutachten keine medizinisch belegbaren Gründe gab, war das Berufungsgericht nicht gehalten, von sich aus nach anderen medizinischen oder außermedizinischen Gründen zu forschen und damit - etwa aufgrund einer besonderen gesundheitlichen Anfälligkeit, einer psychischen Labilität, Hypochondrie oder ähnlichem - eine negative Prognose zu begründen. Dies wäre vielmehr Aufgabe der Beklagten gewesen, die aber insoweit nicht auf geeignete Anhaltspunkte verwiesen hat.
3. Die Revisionsrüge zum Auflösungsantrag hat ebenfalls keinen Erfolg. Das Revisionsvorbringen läuft darauf hinaus, die nicht erfolgreiche Kündigungsbegründung zum Auflösungsgrund zu erheben. Das wird durch § 9 KSchG nicht gedeckt: Wie der Senat mehrfach entschieden hat, ist das KSchG kein Abfindungs-, sondern ein Bestandsschutzgesetz. Zwar können auch solche Umstände für eine Auflösung sprechen, die eine Kündigung selbst nicht rechtfertigen; Voraussetzung ist aber immer, daß diese Gründe einer den Betriebszwecken dienlichen Zusammenarbeit entgegenstehen, wobei allgemeine Redewendungen etwa des Inhalts, die Vertrauensgrundlage sei weggefallen oder ein Zerwürfnis sei eingetreten, nicht ausreichen; vielmehr sind an die Auflösungsgründe strenge Anforderungen zu stellen (BAGE 37, 135 = AP Nr. 8 zu § 9 KSchG 1969 und Urteil vom 14. Mai 1987 - 2 AZR 294/86 - AP Nr. 18 zu § 9 KSchG 1969, zu B II 1 der Gründe). Dafür hatte die Beklagte schon in der Berufungsinstanz nicht genügend vorgetragen.
Hillebrecht Bitter Kremhelmer
Dr. Wolter Dr. Roeckl
Fundstellen
Haufe-Index 437797 |
NZA 1994, 309 |
NZA 1994, 309-311 (ST1) |
EzA § 1 KSchG Krankheit, Nr 39 (ST1-2) |