Leitsatz (amtlich)
Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann entsprechend §§ 130, 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 widerrufen werden, wenn der Widerruf wirksam vorbehalten worden ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 130-131
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist unter der Berufsbezeichnung "Systemanalytiker" tätig. Er arbeitete in den Streitjahren als freier Mitarbeiter für einen promovierten Betriebswirt, der eine Unternehmensberatung betreibt, die die Systemanalyse anwendet und EDV-Anlagen einsetzt.
Der Kläger meint, die aus seiner Tätigkeit erzielten Einkünfte seien Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit i. S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Demgegenüber hielt der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) die Tätigkeit des Klägers für gewerblich und erließ Gewerbesteuermeßbescheide für 1973 und 1974. Nach Anfechtung dieser Bescheide durch den Kläger setzte das FA die Vollziehung der Bescheide unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs aus. Nachdem das Finanzgericht (FG) München -- III. Senat -- in der Einkommensteuer- und Umsatzsteuersache des Klägers für 1975 die Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung abgelehnt hatte, es sei nicht ernstlich zweifelhaft, daß der Kläger eine gewerbliche Tätigkeit ausgeübt habe, widerrief das FA unter Hinweis auf diese Entscheidung seine Verfügungen über die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermeßbescheide für 1973 und 1974. Beschwerde und Klage dagegen blieben erfolglos.
Die vom FG zugelassene Revision begründet der Kläger wie folgt:
Bei der Aussetzung der Vollziehung dürfe ein Widerruf nicht vorbehalten werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestünden; insoweit liege dann keine Ermessensentscheidung vor.
Der Widerruf sei auch ermessensfehlerhaft, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Meßbescheide bestünden. Der Kläger habe eine freiberufliche Tätigkeit i. S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG ausgeübt.
Der Kläger beantragt, die Gewerbesteuermeßbescheide 1973 und 1974, den Widerruf der Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide sowie das FG-Urteil aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Die Aussetzungsverfügungen vom 10. Januar 1977 (betreffend den Gewerbesteuermeßbescheid 1973) und vom 30. März 1977 (betreffend den Gewerbesteuermeßbescheid 1974) sind mit einem rechtswirksamen Widerrufsvorbehalt erlassen worden (§ 120 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung -- AO 1977 --). Ein Verwaltungsakt kann mit einem Widerrufsvorbehalt erlassen werden, sofern es sich nicht um einen Verwaltungsakt handelt, auf den ein Anspruch besteht (§ 120 Abs. 1 AO 1977). Ob es sich bei Aussetzungsverfügungen gemäß § 361 Abs. 2 AO 1977 um einen Verwaltungsakt i. S. des § 120 Abs. 1 AO 1977 handelt (in diesem Sinne wohl Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, 466, BStBl II 1968, 199), braucht der Senat in diesem Verfahren nicht zu entscheiden. Die Widerrufsvorbehalte sind unabhängig davon, ob sie nach § 120 Abs. 2 AO 1977 erlassen werden durften, schon deshalb wirksam, weil sie als Nebenbestimmungen zu den Aussetzungsverfügungen mit diesen bestandskräftig geworden sind. Davon ist bei Nebenbestimmungen anderer Art auszugehen (z. B. Erklärung der Vorläufigkeit im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 22. März 1974 VII C 31/72, Steuerrechtsprechung in Karteiform -- StRK --, Reichsabgabenordnung, § 212 c, Rechtsspruch 7 m. w. N.; Bedingung der Sicherheitsleistung im BFH-Urteil vom 31. Oktober 1973 I R 249/72, BFHE 111, 5, BStBl II 1974, 118). Der Senat hat keine Bedenken, dies auch im Streitfall anzunehmen.
2. Der Widerruf der Aussetzungsverfügungen ist auch zu Recht erfolgt. Ein Verwaltungsakt mit einem wirksamen Widerrufsvorbehalt kann entweder gemäß § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 oder gemäß § 130 AO 1977 widerrufen werden.
§ 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 kann nur Anwendung finden, wenn es sich um einen rechtmäßigen Verwaltungsakt handelt. Ob die streitigen Aussetzungsverfügungen rechtmäßig waren, ist zweifelhaft. Sie könnten rechtswidrig sein, weil das FA mangels ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitigen Gewerbesteuermeßbescheide deren Vollziehung nicht hätte aussetzen dürfen. Die Frage braucht der Senat aber nicht zu entscheiden, denn der Widerruf der Aussetzungsverfügungen wäre in entsprechender Anwendung des § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 im Rahmen des § 130 AO 1977 auch dann möglich, wenn die Aussetzungsverfügungen rechtswidrig wären.
§ 130 AO 1977 führt zwar die Möglichkeit der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts aufgrund eines wirksam vorbehaltenen Widerrufs nicht auf. In der Literatur wird aber die Auffassung vertreten, daß, wenn schon der Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts nach § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zulässig ist, der Widerruf eines rechtswidrigen Verwaltungsakts erst recht möglich sein müsse, sofern der Verwaltungsakt mit einem wirksamen Widerrufsvorbehalt versehen ist (vgl. Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten [AO 1977], 6. Aufl., S. 33; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 130 AO 1977 Tz. 8a, und Förster in Koch, Abgabenordnung, Kommentar, 2. Aufl., § 130 Tz. 28 m. w. N.). Der erkennende Senat teilt diese Ansicht. Anderenfalls stünde sich der Steuerpflichtige, demgegenüber ein rechtswidriger Verwaltungsakt erlassen ist, besser als derjenige, der gemäß § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 den Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts in Kauf nehmen muß. Angesichts des wirksamen Widerrufsvorbehalts kann der Steuerpflichtige nur darauf vertrauen, daß die Verwaltung bei der Entscheidung, ob sie im Einzelfall von dem Widerrufsvorbehalt Gebrauch machen soll, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält (§ 5 AO 1977), denn es handelt sich bei dem Widerruf im Falle des § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 und so auch hier um eine Ermessensentscheidung (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 131 AO 1977 Tz. 13; Koch, a. a. O., § 131 Tz. 12; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung, Kommentar, 13. Aufl., § 131 Anm. 3a).
Der Senat hat in diesem Falle lediglich zu prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 102 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Bei der auch in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist weder eine Ermessensüberschreitung noch ein Ermessensfehlgebrauch ersichtlich. Wenn das FA die Aussetzungsverfügungen widerrufen hat, nachdem das FG in seinem Beschluß vom 14. Februar 1979 betreffend die Aussetzung der Vollziehung des Einkommen- und des Umsatzsteuerbescheids 1975 nicht für ernstlich zweifelhaft hielt, daß der Kläger zu Recht als Gewerbetreibender behandelt worden ist, dann ist es nicht willkürlich, wenn das FA daraus für die Gewerbesteuermeßbescheide für die Streitjahre die Konsequenzen gezogen hat. Anderenfalls wäre die Vollziehung von Steuerbescheiden zum Teil ausgesetzt und zum Teil nicht ausgesetzt worden, obwohl in allen Fällen dieselbe Rechtsfrage streitig ist.
Fundstellen
Haufe-Index 74528 |
BStBl II 1983, 187 |
BFHE 1982, 209 |