4.1 Die Frage nach der (Schwer-)Behinderung im bestehenden Arbeitsverhältnis
Wollen Arbeitgeber einen schwerbehinderten Mitarbeiter kündigen, bedarf die Kündigung der Zustimmung des Integrationsamts. Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung nicht, ist die Kündigung unwirksam. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung nichts wusste.
Mitteilung der Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers
Im Februar 2012 entschied das Bundesarbeitsgericht einen Fall zu einer Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers, dessen Schwerbehinderung dem Arbeitgeber unbekannt geblieben war. Als der Mitarbeiter schon länger als 6 Monate im Betrieb beschäftigt war, fragte der Arbeitgeber danach, ob der Mitarbeiter schwerbehindert sei. Das Gericht entschied, dass der Mitarbeiter darauf wahrheitsgemäß antworten müsse. Die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Antwort der Frage schlussfolgert das BAG aus der Rücksichtnahmepflicht des Mitarbeiters gemäß § 241 Abs. 2 BGB. Der schwerbehinderte Mitarbeiter musste es dem Arbeitgeber ermöglichen, dessen Pflichten der Rücksichtnahme auf schwerbehinderte Menschen zu erfüllen. Das kann er aber nicht, wenn ihm die Schwerbehinderung unbekannt ist. Auf die Wahrheitstreue der gemachten Angaben durfte der Arbeitgeber daher vertrauen und musste für eine Kündigung das Integrationsamt nicht um Zustimmung ersuchen.
Dass ein Arbeitnehmer eine entsprechende Frage dann wahrheitsgemäß beantworten muss, wenn das Arbeitsverhältnis mindestens 6 Monate bestanden hat, basiert auf der Regelung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX. Mit dem Ablauf von 6 Monaten treffen den Arbeitgeber besondere Pflichten der Rücksichtnahme auf schwerbehinderte Menschen. Er muss schwerbehinderte Arbeitnehmer angemessen zu ihrer Behinderung beschäftigen, um ihnen eine faire Chance der Teilhabe am Arbeitsleben zu geben. Das heißt, der Arbeitgeber muss beispielsweise mit der Architektur des Betriebs Rücksicht nehmen, damit schwerbehinderte Mitarbeiter ihre Arbeit ordentlich verrichten können. Dieser Pflichtenkanon tritt neben den besonderen Kündigungsschutz (Erfordernis der Zustimmung des Integrationsamts), den schwerbehinderte Arbeitnehmer haben. Soweit diese Pflichten eingreifen, darf der Arbeitgeber danach fragen, ob der Mitarbeiter eine schwerbehinderte Person ist.
Zulässigkeit der Frage nach Behinderung
Das BAG entschied, dass die Frage nach der Behinderung keine (unmittelbare) Benachteiligung i. S. d. § 3 Abs. 1 AGG aus dem Grund sei, dass nur schwerbehinderte Menschen wahrheitswidrig eine negative Antwort geben können. Schwerbehinderte Menschen erfahren hierdurch keine Schlechterbehandlung, denn es gehe darum, besonders auf sie Rücksicht zu nehmen. Anders formuliert: die Frage nach dem Vorliegen einer Behinderung bezweckt ihre Besserstellung anstatt der Schlechterbehandlung. Daraus folgt, dass die Frage nach der Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis nicht den Tatbestand der unmittelbaren Benachteiligung i. S. d. § 3 Abs. 1 AGG erfüllt.
4.2 Unionsrechtliches Antidiskriminierungsrecht im Kontext des AGG
Wie oben erläutert, differenziert das Unionsrecht nicht nach dem Grad der Behinderung. Dies führt zu dem folgenden Problem: Ab einem Grad der Behinderung (GdB) von weniger als 50 gilt man nach deutschem Recht nicht als schwerbehindert nach § 2 Abs. 2 SGB IX. Viele der Regeln des Behindertenschutzes greifen erst ab einem GdB von 50. Beispielsweise bekommen schwerbehinderte Menschen als Ausgleich besondere Vorzüge gemäß § 164 Abs. 4 SGB IX. Dazu zählen die Ausstattung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfen (Nr. 5) und die bevorzugte Berücksichtigung bei innerbetrieblichen Angeboten der Weiterbildung und Förderung (Nr. 2). Unabhängig vom GdB erwartet das Unionsrecht hier aber auch für behinderte Menschen, die nicht schwerbehindert sind, einen angemessenen Schutz (Art. 5 2000/78 EG-RL). Die Richtlinie 2000/78 EG ist eine der inhaltgebenden Richtlinien für das AGG. Art. 5 2000/78 EG-RL verlangt, dass der Gesetzgeber die Vorkehrungen trifft, um einen angemessenen Behindertenschutz zu gewährleisten. Die Norm hat der deutsche Gesetzgeber indes nicht in nationales Recht umgesetzt. Das BAG reagierte hierauf, indem es im "HIV-Fall" § 241 Abs. 2 BGB, die allgemeine Rücksichtsnorm, als Quelle für diese Pflicht erklärte.
Unionsrechtlich gilt der Grundsatz des "effet utile". Hiernach muss das Unionsrecht so weit wie möglich zur Anwendung kommen. Das Bundesarbeitsgericht muss bei seiner Rechtsprechung dieses Gebot berücksichtigen. Hiermit begründet sich, weshalb dieses § 241 Abs. 2 BGB herangezogen hat. Bei vertraglichen Schuldverhältnissen findet § 241 Abs. 2 BGB generell Anwendung. Hierzu zählen auch Arbeitsverhältnisse. Beide Parteien eines Schuldverhältnisses sind gemäß § 241 Abs. 2 BGB dazu verpflichtet, bei der Durchführung des ...