BMF, Schreiben v. 19.3.2004, IV D 2 - S 0338 - 11/04, BStBl I 2004,361
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Urteil vom 9.3.2004, 2 BvL 17/02 entschieden, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Fassung mit Artikel 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig ist, soweit die Vorschrift Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft. Das Gericht hat aber auch festgestellt, dass der Befund eines strukturellen Vollzugsdefizits sich nicht ohne weiteres auf die Folgejahre übertragen lässt, weil sich die einfachgesetzliche Lage mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 deutlich gewandelt hat.
Ferner ist nach den Regelungen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 vom 29.12.2003 (BStBl 2004 I S. 120) § 32 Abs. 7 EStG (Haushaltsfreibetrag) bereits ab dem Veranlagungszeitraum 2004 nicht mehr anwendbar.
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt daher Folgendes:
1. Einkommensteuerfestsetzungen für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998
In anhängigen außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren ist – bei Zulässigkeit des Rechtsbehelfs – ein Änderungsbescheid zu erlassen und eine Besteuerung der Einkünfte aus privaten Wertpapierveräußerungsgeschäften rückgängig zu machen. Entsprechendes gilt, falls die Einkommensteuerfestsetzung einen Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Besteuerung der Einkünfte aus privaten Wertpapierveräußerungsgeschäften enthält. Bestandskräftige Einkommensteuerbescheide können aufgrund des BVerfG-Urteils vom 9.3.2004 nicht geändert werden (§ 79 Abs. 2 BVerfGG); der gesetzliche Ausschluss der Änderungsmöglichkeit verbietet die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne der §§ 163, 227 AO. Es besteht aber ein Vollstreckungsverbot hinsichtlich der auf die Einkünfte aus privaten Wertpapierveräußerungsgeschäften entfallenden Steuer (§ 251 Abs. 2 AO i.V.m. § 79 Abs. 2 BVerfGG). Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf der vom BVerfG für nichtig erklärten EStG-Vorschrift beruht, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig (§ 79 Abs. 1 BVerfGG).
2. Einkommensteuerfestsetzungen für die Veranlagungszeiträume ab 1999
Einkommensteuerfestsetzungen sind nicht mehr hinsichtlich der Besteuerung der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sowie hinsichtlich der Besteuerung der Einkünfte aus Termingeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG vorläufig durchzuführen. Die Nummern 2 und 3 der Anlage zum BMF Schreiben vom 12.6.2003 (BStBl 2003 I S. 338), zuletzt neu gefasst durch BMF Schreiben vom 24.9.2003 (BStBl 2003 I S. 482), werden daher mit sofortiger Wirkung gestrichen. Die bisher vorläufig durchgeführten Festsetzungen der Einkommensteuer sind insoweit für endgültig zu erklären.
Es besteht keine Veranlassung mehr, Einsprüche, die die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung der Einkünfte aus Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG bzw. aus Termingeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG betreffen, ruhen zu lassen. Eine Aussetzung der Vollziehung kommt insoweit nicht mehr in Betracht. Bisher bewilligte Vollziehungsaussetzungen sind zu widerrufen; in Fällen, in denen die Finanzgerichte oder der BFH nach § 69 Abs. 3 FGO Aussetzung der Vollziehung gewährt haben, ist nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO die Aufhebung des Vollziehungsaussetzungsbeschlusses zu beantragen. Ferner sind nach Maßgabe des § 237 AO Aussetzungszinsen festzusetzen.
3. Neufassung der Anlage zum BMF-Schreiben vom 12.6.2003
Die Anlage zum BMF Schreiben vom 12.6.2003 (BStBl 2003 I S. 338), zuletzt neu gefasst durch BMF Schreiben vom 24.9.2003 (BStBl 2003 I S. 482), wird mit sofortiger Wirkung wie folgt gefasst:
„Festsetzungen der Einkommensteuer sind hinsichtlich folgender Punkte vorläufig vorzunehmen:
- Beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG)
- Anwendung des § 32 Abs. 7 EStG (Haushaltsfreibetrag) für die Veranlagungszeiträume 2002 und 2003
- Anwendung des § 32c EStG für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 2000
- Anwendung des Mindeststeuersatzes bei beschränkt Steuerpflichtigen (§ 50 Abs. 3 Satz 2 EStG).
In den Fällen der Nummer 1 ist auf Antrag des Steuerpflichtigen Aussetzung der Vollziehung zu gewähren, soweit strittig ist, ob der zusammenveranlagten Ehegatten für Vorsorgeaufwendungen zustehende Vorwegabzug (§ 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG) um 16 % des Arbeitslohns des Ehegatten zu kürzen ist, für den keine Zukunftssicherungsleistungen im Sinne des § 3 Nr. 62 EStG erbracht werden und der auch nicht zum Personenkreis des § 10c Abs. 3 Nr. 1 oder 2 EStG gehört (BFH-Beschluss vom 14.4.2003, BStBl 2003 II S. 708).
Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 2 ist sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen mit einer Günstigerprüfung nach § 31 EStG beizufügen. Er umfasst sowohl die Frage, ob die Abschmelzung des Haushaltsfreibetrags (§ 32 Abs. 7 EStG) verfassungswidrig ist, als auch die ...