Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste

Einkommensteuerbescheide ergehen ab sofort vorläufig hinsichtlich der Frage, ob die Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste verfassungsgemäß ist.

Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste

Bund und Länder haben beschlossen, Einkommensteuerfestsetzungen ab dem VZ 2009 wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste nach § 20 Abs. 6 S. 4 EStG (§ 20 Abs. 6 S. 5 EStG a.F.) vorläufig durchzuführen. Dies geht aus dem BMF-Schreiben vom 31.01.2022 hervor, mit dem der bisherige Vorläufigkeitskatalog entsprechend ergänzt wurde (letzte Fassung siehe BMF-Schreiben v. 30.8.2021, BStBl 2021 I S. 1042).

Neuer Vorläufigkeitsvermerk

Der neue Vorläufigkeitsvermerk wird sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen ab dem VZ 2009 beigefügt, zu denen ein Verlust aus Kapitalvermögen i. S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 S. 1 EStG, der aus der Veräußerung von Aktien entstanden ist, nach § 20 Abs. 6 S. 3 i. V. m. § 10d Abs. 4 EStG festgestellt wird, weil ein Ausgleich mit anderen Einkünften aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 6 S. 4 EStG (§ 20 Abs.6 S. 5 EStG a.F.) nicht möglich ist.

Verfahren beim BVerfG

Der BFH hat dem BVerfG mit Beschluss vom 17.11.2020 - VIII R 11/18 die Frage vorgelegt, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Verluste aus der Veräußerung von Aktien nach der Änderung durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 vom 14.08.2007 (BGBl 2007 I S. 1912) nur noch mit Gewinnen aus der Veräußerung von Aktien und nicht mit sonstigen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen verrechnet werden dürfen.

Hinweis: Das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 hatte die Besteuerung von Kapitalanlagen des steuerlichen Privatvermögens grundlegend neu gestaltet; durch die Zuordnung von Gewinnen aus der Veräußerung von Kapitalanlagen (u.a. Aktien) zu den Einkünften aus Kapitalvermögen wurden die dabei realisierten Wertveränderungen (Gewinne und Verluste) in vollem Umfang und unabhängig von einer Haltefrist einer Besteuerung ausgesetzt. Da Einkünfte aus Kapitalvermögen grundsätzlich abgeltend mit einem Steuersatz von 25 % besteuert werden, sehen die Regelungen vor, dass Verluste aus Kapitalvermögen nur mit sonstigen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen ausgeglichen werden dürfen. Eine zusätzliche Verlustverrechnungsbeschränkung gilt für Verluste aus der Veräußerung von Aktien; diese dürfen nicht mit anderen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen, sondern nur mit Gewinnen, die aus der Veräußerung von Aktien entstehen, ausgeglichen werden. Nach der Gesetzesbegründung sollten dadurch Risiken für den Staatshaushalt verhindert werden.

Im zugrundeliegenden Fall des BFH hatte ein Kläger ausschließlich Verluste aus der Veräußerung von Aktien erzielt. Er beantragte, diese Verluste mit seinen sonstigen Einkünften aus Kapitalvermögen zu verrechnen, die jedoch keine Gewinne aus Aktienveräußerungen waren.

Nach Auffassung des BFH bewirkt die gesetzlich vorgesehene Verlustverrechnungsbeschränkung eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung, weil sie Steuerzahler ohne rechtfertigenden Grund unterschiedlich behandelt - je nachdem, ob sie Verluste aus der Veräußerung von Aktien oder aus der Veräußerung anderer Kapitalanlagen erzielt haben. Eine Rechtfertigung für diese Ausgestaltung der Verlustausgleichsregelung für Aktienveräußerungsverluste ergibt sich nach Gerichtsmeinung weder aus der Gefahr der Entstehung erheblicher Steuermindereinnahmen noch aus dem Gesichtspunkt der Verhinderung missbräuchlicher Gestaltungen oder aus anderen außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszielen.

Das Verfahren ist beim BVerfG unter dem Az. 2 BvL 3/21 anhängig.

Hinweis: Einsprüche gegen vorläufig durchgeführte Steuerfestsetzungen, die sich ausschließlich auf vom Vorläufigkeitsvermerk erfasste Fragen beziehen (hier: die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung), werden vom Finanzamt als unzulässig verworfen (vgl. AEAO zu § 350, Nr. 6 dritter Absatz). In diesem Fall wird ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis angenommen. Trotz vorläufiger Steuerfestsetzung kann ein solches Rechtsschutzbedürfnis aber anzunehmen sein, wenn der Einspruchsführer besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend macht oder Aussetzung der Vollziehung begehrt.

Gesamter Vorläufigkeitskatalog

Nach der vorgenannten Ergänzung durch das BMF-Schreiben vom 31.01.2022 sind in Steuerbescheiden nun folgende Vorläufigkeiten hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonformen Auslegung enthalten:

  • Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 S. 1 und 2 EStG (ab VZ 2001)
  • Abzug einer zumutbaren Belastung (§ 33 Abs. 3 EStG) bei der Berücksichtigung von Aufwendungen für Krankheit oder Pflege als außergewöhnliche Belastung (alle VZ)
  • Besteuerung von Leibrenten und anderen Leistungen aus der Basisversorgung nach § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG  (ab VZ 2005)
  • Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste (ab VZ 2009)
  • Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlagsgesetzes 1995 (ab VZ 2005); für Zeiträume ab 2020 erfasst dieser Vorläufigkeitsvermerk auch die Frage, ob die fortgeltende Erhebung eines Solidaritätszuschlages nach Auslaufen des Solidarpakts II zum 31.12.2019 verfassungsgemäß ist.

BMF, Schreiben v. 31.1.2022, IV A 3 - S 0338/19/10006 :001


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