Prof. Dr. jur. Tobias Huep
Gemäß § 3 Abs. 1 EFZG ist der Entgeltfortzahlungsanspruch ausgeschlossen, wenn den Arbeitnehmer bei der Entstehung der Arbeitsunfähigkeit ein Verschulden trifft. Bei diesem Verschulden handelt es sich nicht um ein Verschulden gegenüber einem Dritten im schuldrechtlichen Sinne etwa einer unerlaubten Handlung. Schuldhaft handelt deshalb nur ein Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Erforderlich ist ein grober oder gröblicher Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten. Dabei ist fahrlässiges Handeln nicht ausreichend, erforderlich ist ein Handeln im Angesicht der Gefahr "auf gut Glück".
Die Verschuldensprüfung hat sich am Zweck der Entgeltfortzahlung zu orientieren. Ziel ist die finanzielle Absicherung des Arbeitnehmers bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit – zudem soll das dadurch entstehende Kostenrisiko zwischen Arbeitgeber und Krankenversicherung aufgeteilt werden. Danach ist das Eigeninteresse des Arbeitnehmers das Interesse am Erhalt seiner Gesundheit und der Vermeidung zur Arbeitsunfähigkeit führender Erkrankungen. Dies ist nur dann gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit beim an sich gebotenen Handeln oder Unterlassen vermieden worden wäre; die bloße Steigerung des Risikos einer Arbeitsunfähigkeit durch das Handeln oder Unterlassen des Arbeitnehmers genügt nicht.
Aus der sprachlichen Fassung des § 3 Abs. 1 EFZG folgt, dass das Risiko der Unaufklärbarkeit der Ursachen einer Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit und eines möglichen Verschuldens des Arbeitnehmers daran beim Arbeitgeber liegt. Dieser macht eine anspruchshindernde Einwendung geltend; allerdings trifft den Arbeitnehmer für die aus seiner Sphäre stammenden Umstände eine sekundäre Darlegungs- und Beweislast.
Für Suchterkrankungen, insbesondere Alkoholsucht, kann nach den modernen Erkenntnissen ihrer Entstehung nicht mit der für die Annahme eines Verschuldens gemäß § 3 Abs. 1 EFZG erforderlichen Deutlichkeit festgestellt werden, was im Einzelfall die Ursache für die Alkoholabhängigkeit ist und dass willensgesteuertes Verhalten des Arbeitnehmers in relevantem Umfang daran einen Anteil hat. Ein Verschulden scheidet damit regelmäßig aus, da nicht eine singuläre – willentlich steuerbare – Ursache dafür, warum bei einer einzelnen Person eine Alkoholabhängigkeit eintritt, feststellbar ist.
Bei einem Arbeitsunfall kann Verschulden dann zu bejahen sein, wenn der Arbeitnehmer gröblich gegen Anordnungen des Arbeitgebers oder gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen hat.
Wird durch eine In-vitro-Fertilisation willentlich und vorhersehbar eine Arbeitsunfähigkeit bedingende Erkrankung herbeigeführt, ist ein Entgeltfortzahlungsanspruch wegen Verschuldens ausgeschlossen. Ein Verschulden liegt nicht vor, wenn im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation, die nach allgemein anerkannten medizinischen Standards vom Arzt oder auf ärztliche Anordnung vorgenommen wird, eine zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung auftritt, mit deren Eintritt nicht gerechnet werden musste.
Die Nichtvornahme einer Schutzimpfung gegen eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus stellt aufgrund der möglichen, objektiv nachgewiesenen Impfdurchbrüche kein Verschulden im Hinblick auf den Eintritt einer Corona-Infektion dar.
Bei Sportunfällen ist zwischen gefährlichen und nicht gefährlichen Sportarten zu unterscheiden, weil die Ausübung ungefährlicher Sportarten sich von vornherein im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos bewegt. Eine gefährliche Sportart soll dagegen dann vorliegen, wenn das Verletzungsrisiko so groß ist, dass auch ein gut ausgebildeter Sportler bei sorgfältiger Beachtung aller Regeln dieses Risiko nicht vermeiden kann. In der Praxis ist bislang jedoch noch keine Sportart in ihrer Ausübung als von vornherein schuldhaft i. S. d. § 3 Abs. 1 EFZG qualifiziert worden.
Ein Suizidversuch stellt kein Verschulden dar, weil sich der betreffende Mitarbeiter in einem Zustand verminderter autonomer Willenssteuerung befindet; regelmäßig ist von einer psychischen Erkrankung auszugehen.
Der Arbeitnehmer schuldet i. Ü. keine besondere, vorbeugende Rücksichtnahme auf die finanziellen Belange des Arbeitgebers in Sinne eines allgemein gesunden oder krankheitsvermeidenden Verhaltens. Im Fall bereits bestehender Krankheit kann die u. U. anders zu bewerten sein.