Prof. Dr. jur. Tobias Huep
Der erkrankte Arbeitnehmer weist seine Arbeitsunfähigkeit durch die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach. Diesem gesetzlich vorgeschriebenen Nachweis kommt nach ständiger Rechtsprechung ein hoher Beweiswert zu. Angesichts des hohen Beweiswerts einer ärztlichen AU-Bescheinigung müssen vom Arbeitgeber zumindest begründete Zweifel an der Richtigkeit einer ärztlichen AU-Bescheinigung aufgezeigt werden, um den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern.
Die seit dem 1.10.2021 eingeführte elektronische AU-Bescheinigung ändert an dieser beweisrechtlichen Würdigung nichts. Die elektronische Meldung der Arbeitsunfähigkeit erfolgt seit dem 1.10.2021 an die Krankenkasse und seit dem 1.1.2023 an den Arbeitgeber.
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Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit richtet sich nach den Vorgaben der "Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie" des GBA.
Sie erfolgt unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung.
Als mittelbar persönliche Untersuchung kommt vorrangig eine Untersuchung im Rahmen einer Videosprechstunde in Betracht. Voraussetzung ist, dass die Art der Erkrankung dies nicht ausschließt, andernfalls muss die Feststellung unmittelbar persönlich erfolgen. Sofern der Arbeitnehmer dem Arzt aufgrund früherer Behandlung nicht unmittelbar persönlich bekannt ist, soll die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit über einen Zeitraum von bis zu 3 Kalendertagen nicht hinausgehen, anderenfalls kann eine erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde für einen Zeitraum von bis zu 7 Kalendertagen erfolgen. Im Fall der Fortsetzung der Erkrankung muss der Arbeitnehmer für den anfänglichen Arbeitsunfähigkeitszeitraum bereits einmal unmittelbar und persönlich ärztlich untersucht worden sein.
Als typische, per Videosprechstunde diagnostizierbare Erkrankungen nennt die Begründung des G-BA der Krankenkassen Erkältungen, Menstruationsbeschwerden, Blasenentzündung, Magen-Darm-Infekt, Migräne, Krankheitsschübe z. B. bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen sowie krankhafte Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen z. B. bei Verlust von nahestehenden Angehörigen.
Ein Rechtsanspruch auf eine AU-Bescheinigung auf Basis einer Videosprechstunde besteht nicht. Der Versicherte ist vor der Videosprechstunde auf diese besonderen Umstände hinzuweisen. Technische Unzulänglichkeiten aufseiten des Versicherten (schlechte Beleuchtung, Übertragungsunterbrechungen etc.) gehen zulasten des Versicherten.
Nur wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich ist, kann diese mittelbar persönlich auch nach telefonischer Anamnese erfolgen. Die Bescheinigung ist nur bei Patienten möglich, die der Praxis bekannt sind. Dabei darf die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit maximal über einen Zeitraum von bis zu 5 Kalendertagen gehen. Weiterhin darf es sich nur um Erkrankungen handeln, die keine schwere Symptomatik vorweisen. Für die Feststellung eines weiteren AU-Zeitraums muss der erkrankte Arbeitnehmer die Praxis persönlich aufsuchen, sofern er nicht zur anfänglichen Feststellung unmittelbar persönlich beim Arzt untersucht wurde.
Bezweifelt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit, kündigt er daraufhin oder verweigert er die Entgeltfortzahlung, so entscheidet das Arbeitsgericht auf Klage des Arbeitnehmers, ob Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Erhebt der Arbeitgeber trotz vorgelegter ärztlicher AU-Bescheinigung den Vorwurf, die Arbeitsunfähigkeit sei nur vorgetäuscht, muss er einerseits vortragen, dass der Arbeitnehmer ihn vorsätzlich über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit getäuscht hat und darüber hinaus ausreichende Tatsachen darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Der Arbeitgeber muss im Rechtsstreit Umstände darlegen und ggf. beweisen, die zu ernsthaften und begründeten Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben und die so den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern.
Der Arbeitnehmer ist in diesem Zusammenhang verpflichtet, seinen Arzt von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Der Arbeitgeber hat auch die Möglichkeit, der Krankenkasse die Tatsachen mitzuteilen, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit rechtfertigen. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung einzuholen. Voraussetzung ist ferner, dass die Einholung der gutachtlichen Stellungnahme nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist. § 275 Abs. 1a Satz 1 Buchst. a und b SGB V bestimmt: Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit sind insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen Arbeitnehmer auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt, oder die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt ...