Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsbegründungsfrist. Verlängerung
Leitsatz (amtlich)
- Trägt ein Prozeßbevollmächtigter in einem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG vor, eine ordnungsgemäße Bearbeitung der Sache sei aufgrund einer Vielzahl gleichzeitig ablaufender Fristen nicht möglich, darf der Vorsitzende, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, ohne Gewährung rechtlichen Gehörs von einer Verlängerung der Begründungsfrist nicht mit der Begründung absehen, die Gründe seien nicht nach § 224 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.
- Dem Beschleunigungsgrundsatz nach § 9 Abs. 1 ArbGG ist dadurch genügt, daß die Frist nach § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG nur einmal verlängert werden kann. Zudem ist der Vorsitzende nach Vornahme einer am Einzelfall orientierten Ermessensausübung nicht verpflichtet, die Monatsfrist voll auszuschöpfen.
Normenkette
ArbGG § 66 Abs. 1 S. 4; ZPO § 85 Abs. 2, § 224 Abs. 2, §§ 233, 238 Abs. 1, § 294 Abs. 1, § 519 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Beschluss vom 05.07.1993; Aktenzeichen 9 (11) Sa 867/93) |
ArbG Düsseldorf (Urteil vom 11.03.1993; Aktenzeichen 2 Ca 4167/92) |
Tenor
- Auf die Revisionsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluß des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 5. Juli 1993 – 9 (11) Sa 867/93 – aufgehoben.
- Der Beklagten wird gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
- Im übrigen wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revisionsbeschwerde – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I.
Die Beklagte hat den Kläger durch Widerklage auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Gegen das die Widerklage abweisende Schlußurteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte mit dem am 26. April 1993 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt.
Mit dem am 26. Mai 1993 bei dem Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz hat der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten um die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 28. Juni 1993 gebeten und dazu vorgetragen, daß “eine ordnungsgemäße Bearbeitung aufgrund einer Vielzahl von gleichzeitig ablaufender Fristen nicht möglich” sei. Den Antrag hat der Kammervorsitzende durch Beschluß vom 28. Mai 1993 mit der Begründung zurückgewiesen, die Fristverlängerung werde zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen. Erhebliche Gründe für die Verlängerung seien nicht dargelegt.
Durch Beschluß vom 11. Juni 1993 hat das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Die Ausfertigung dieses Beschlusses ist der Beklagten am 15. Juni 1993 zugestellt worden.
Mit dem bei dem Berufungsgericht am 16. Juni 1993 eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nachgesucht und die Berufung gleichzeitig begründet.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat die Beklagte vorgetragen, sie habe nicht damit zu rechnen brauchen, daß die Berufungsbegründungsfrist nicht verlängert werde. Arbeitsüberlastung des Prozeßbevollmächtigten sei ein anerkannter Grund für die begehrte Fristverlängerung. Ihr Prozeßbevollmächtigter habe während seiner langjährigen Tätigkeit in vielen Angelegenheiten die Berufungsbegründungsfrist verlängern lassen müssen. Es entspreche seiner – anwaltlich versicherten – Erfahrung, daß der erstmalige Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist unter Bezugnahme auf Arbeitsüberlastung auch ohne genaue Substantiierung oder anwaltliche Versicherung positiv entschieden werde. Dies entspreche der Gerichtspraxis beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf und beim Landgericht Düsseldorf und sei auch allgemein so üblich.
Die Beklagte hat beantragt,
ihr gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Der Kläger hat beantragt,
den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, die pauschale Begründung des Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch die Beklagte reiche nicht aus, weil ansonsten auf das Erfordernis der Begründung des Antrages auch vollständig verzichtet werden könne.
Das Landesarbeitsgericht hat unter Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist die Berufung durch Beschluß als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revisionsbeschwerde der Beklagten, deren Zurückweisung der Kläger beantragt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revisionsbeschwerde ist begründet.
1. Sie ist nicht unstatthaft, weil sie in dem Beschluß des Landesarbeitsgerichts vom 11. Juni 1993 nicht zugelassen worden ist (§ 77 Abs. 1 Satz 1 ArbGG). Dieser Beschluß ist mit dem Erlaß des angefochtenen Beschlusses hinfällig geworden.
a) Trotz Verwerfung der Berufung als unzulässig durch den Beschluß vom 11. Juni 1993 und der infolgedessen eingetretenen formellen Rechtskraft des Urteils erster Instanz war das Landesarbeitsgericht verpflichtet, über den nachträglich eingegangenen Antrag auf Wiedereinsetzung zu entscheiden (vgl. bereits BAG Urteil vom 18. März 1958 – 2 AZR 554/57 – AP Nr. 1 zu § 234 ZPO; BAG Urteil vom 24. November 1970 – 1 AZR 271/70 – AP Nr. 54 zu § 233 ZPO; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl., § 238 Anm. B IIIb 1). Denn der Rechtsbehelf des Wiedereinsetzungsantrags darf den Prozeßparteien nicht dadurch abgeschnitten werden, daß das Landesarbeitsgericht die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verwirft, wenn der Rechtsmittelkläger zum Zeitpunkt der Verwerfung von der Versäumung weniger als zwei Wochen Kenntnis hatte (vgl. § 234 Abs. 1 ZPO; vgl. auch BAG Urteil vom 24. November 1970, aaO). So liegt der Fall hier. Ausweislich des Aktenvermerks der Geschäftsstelle ist der Beschluß vom 28. Mai 1993 erst am 2. Juni 1993 an den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten abgesandt worden.
b) Gemäß § 238 Abs. 1 ZPO ist das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozeßhandlung zu verbinden. Wird Wiedereinsetzung gewährt, so wird der verwerfende Beschluß hinfällig, ohne daß es dazu eines besonderen Ausspruchs der Aufhebung der Verwerfungsentscheidung bedürfte (vgl. BGHZ 98, 325, 328 m. w. N.; BAG Urteil vom 18. März 1958, aaO). Nichts anderes gilt, wenn die Wiedereinsetzung abgelehnt und die Berufung deshalb erneut als unzulässig verworfen wird. Maßgebend ist deshalb die Zulassung der Revisionsbeschwerde in dem neuerlichen Verwerfungsbeschluß.
2. Der Beklagten ist auf ihren rechtzeitig gestellten Antrag (§ 234 Abs. 2 ZPO) gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Beklagte war ohne eigenes oder ihr zurechenbares Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) verhindert, die versäumte Frist einzuhalten (§ 233 ZPO).
a) Grundsätzlich kann der Rechtsmittelführer im Wiedereinsetzungsverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, er habe mit der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch den Vorsitzenden rechnen dürfen. Er ist vielmehr mit dem Risiko belastet, daß der Vorsitzende in Ausübung seines ihm gem. § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO bzw. § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG eingeräumten Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist auch dann versagt, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. BGH Beschluß vom 14. Februar 1991 – VII ZB 8/90 –, NJW 1991, 1359 m. w. N.). Etwas anderes gilt indessen, wenn der Rechtsmittelführer mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Bewilligung der Fristverlängerung rechnen konnte, weil dies dem normalen Lauf der Dinge entspricht (vgl. BGH Beschluß vom 11. Juli 1985 – III ZB 13/85 –, VersR 1985, 972; BGH Beschluß vom 14. Februar 1991, aaO, m. w. N.). Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts lag ein derartiger Fall vor.
aa) Zu den Gründen, die im Schrifttum und in der Gerichtspraxis im allgemeinen als “erheblich” i. S. von § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO und § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG angesehen werden, zählt u. a. die berufliche Überlastung, bzw. besonders starke Arbeitsbelastung des Prozeßbevollmächtigten (BGH Beschluß vom 5. Juli 1989 – IVb ZB 53/89 –, NJW-RR 1989, 1280; BGH Beschluß vom 7. Mai 1991 – XII ZB 48/91 –, NJW 1991, 2080, 2081; Zöller/Schneider, ZPO, 18. Aufl., § 519 Rz 17; Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 66 Rz 33). Darauf hat sich der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten in der Sache berufen.
bb) Der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten mußte nicht deshalb mit der gänzlichen Ablehnung der Fristverlängerung rechnen, weil er die Gründe seiner Arbeitsüberlastung und ihre Auswirkungen auf die Bearbeitung gerade der konkreten Sache nicht näher substantiiert und glaubhaft gemacht hat (§§ 224 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluß vom 11. Juli 1985, aaO; Beschluß vom 5. Juli 1989, aaO; Beschluß vom 14. Februar 1991, aaO), daß der Anwalt regelmäßig erwarten kann, seinem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist werde entsprochen, wenn einer der Gründe des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO vorgebracht wird, weil eine Praxis, die generell die im Verlängerungsgesuch vorgetragenen Gründe dieser Vorschrift ohne Glaubhaftmachung für nicht ausreichend hält, sich nicht mehr im Rahmen zulässiger, am Einzelfall orientierter Ermessensausübung bewegt. Auf eine solche Praxis braucht sich der Anwalt nicht einzustellen.
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren gilt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nichts anderes. Wenn § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG im Gegensatz zu § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO ausdrücklich nur die einmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zuläßt, dient dies dem im arbeitsgerichtlichen Verfahren vorherrschenden Grundsatz der Beschleunigung (Germelmann/Matthes/Prütting, aaO, Rz 3). Daraus lassen sich jedoch keine Schlüsse auf Anforderungen ziehen, die generell und abweichend von § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO an die Darlegung und Glaubhaftmachung erheblicher Gründe für die Fristverlängerung zu stellen wären. Das verdeutlicht bereits der insoweit gleiche Wortlaut beider Vorschriften. Auch sind die §§ 224 Abs. 2 und 294 Abs. 1 ZPO sowohl im Rahmen von § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO als auch im Zusammenhang mit § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG gleichermaßen anzuwenden.
Diese Auffassung ist nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die Erfordernisse des § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG i. V. mit § 224 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO. Denn weder ist der Antragsteller der Darlegung erheblicher Gründe enthoben, noch ist der Kammervorsitzende im Einzelfall gehindert, eine Substantiierung und Glaubhaftmachung der im Verlängerungsgesuch dargelegten, erheblichen Gründe zu verlangen, wenn – anders als hier – Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß sie nicht zutreffen.
cc) Der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten hat glaubhaft gemacht, daß er im Vertrauen auf die übliche Praxis des Düsseldorfer Landgerichts und des Landesarbeitsgerichts von einer näheren Substantiierung der Gründe seiner Arbeitsbelastung und ihrer Auswirkungen auf die Bearbeitung der konkreten Sache abgesehen hat. Es ist auch nichts für eine Kenntnis des Prozeßbevollmächtigten des Beklagten von einer, von der allgemeinen Praxis abweichenden, generell restriktiveren Handhabung der Verlängerungsvorschriften durch den Vorsitzenden der Neunten Kammer des Landesarbeitsgerichts hervorgetreten. Weder der Beschluß vom 28. Mai 1993 noch der angefochtene Beschluß verweisen auf eine derartige Verfahrensweise. Unter diesen Umständen war das Landesarbeitsgericht auch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit gehindert, der Beklagten das Vertrauen ihres Prozeßbevollmächtigten auf die eindeutige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verschulden gereichen zu lassen (vgl. BVerfG Beschluß vom 28. Februar 1989 – 1 BvR 649/88 –, NJW 1989, 1147).
b) Es gereicht der Beklagten ferner nicht zum Verschulden (§ 85 Abs. 2 ZPO), daß ihr Prozeßbevollmächtigter den Verlängerungsantrag erst am letzten Tag der Frist gestellt hat. Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen. Auch die unter diesen Umständen erhöhten Sorgfaltsanforderungen hat der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten nicht verletzt, als er zur Begründung seines Antrags lediglich auf die Vielzahl gleichzeitig ablaufender Fristen verwiesen hat. Da er daraufhin mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte, bestand keine erkennbare Notwendigkeit für eine Rückfrage bei Gericht vor Ablauf der Frist (vgl. BGH Beschluß vom 5. Juli 1989, aaO).
Unterschriften
Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Dr. Mikosch
Fundstellen
Haufe-Index 856671 |
BAGE, 350 |
BB 1994, 1357 |
BB 1994, 724 |
NJW 1995, 150 |
JR 1994, 440 |
NZA 1994, 907 |
AP, 0 |