Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustimmungsersetzungsverfahren
Orientierungssatz
1. Im Rahmen eines Zustimmungsersetzungsverfahrens kann der Arbeitgeber auch noch solche Umstände zur Begründung des Antrags heranziehen, die erst während des laufenden Verfahrens entstanden sind.
2. Allerdings muss der Arbeitgeber vor der Einführung dieser Umstände im Zustimmungsersetzungsverfahren dem Betriebsrat Gelegenheit gegeben haben, seine Stellungnahme im Lichte der neuen Tatsachen zu überprüfen.
Normenkette
BetrVG §§ 103, 102; BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 15
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 2. August 2007 – 5 TaBV 67/06 – abgeändert.
Das Verfahren wird zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über einen Antrag der Arbeitgeberin auf gerichtliche Ersetzung der verweigerten Zustimmung des in ihrem Betrieb gebildeten Betriebsrats (Beteiligter zu 2) zur außerordentlichen Kündigung des Betriebsratsmitglieds G… (Beteiligter zu 3).
Die Antragstellerin betreibt in A… einen Paketumladebetrieb (Hub 16). Sie beschäftigt dort ca. 90 Mitarbeiter. Die Paketsendungen werden im Betrieb der Antragstellerin umgeschlagen, sie werden angeliefert und zum Weitertransport in einzelne Beladebrücken sortiert. Die Beladebrücken sind Container, die auf Lkw-Anhängern aufsetzend befestigt werden. Eine Verladung findet ausschließlich nachts statt. Die Verladung wird durch Nachtdienstleiter überwacht. Vorgesetzte der Nachtdienstleitung sind der Geschäftsleiter, der Prokurist Z…, der Betriebsleiter D… sowie die eingetragenen Geschäftsführer. Die Mitarbeiter der Betriebs- und Geschäftsleitung sind während der Verladungen nicht persönlich anwesend. Nachtdienstleiter sind ua. der ehemalige Betriebsratsvorsitzende T… und Herr S….
Im Verladebetrieb Hub 16 besteht ein 5-köpfiger Betriebsrat, der Beteiligte zu 2). Der am 25. Dezember 1964 geborene und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtete Beteiligte zu 3) ist seit dem 20. Oktober 1983 bei der Antragstellerin beschäftigt. Er ist als Hofmeister für alle Mitarbeiter der Verladung, die an den im Hof stehenden Beladebrücken arbeiten, verantwortlich und ihnen gegenüber weisungsbefugt. Er war seit über 20 Jahren Mitglied des Betriebsrats, zum Zeitpunkt der Antragstellung stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und wurde bei der Neuwahl des Betriebsrats im Jahr 2006 wiedergewählt.
In den letzten Jahren stellte die Antragstellerin zahlreiche Diebstähle aus Paketsendungen fest. Nach internen Ermittlungen war sie der Auffassung, die Entnahmen erfolgten in der sog. Verklebestation. Nachdem ein Mitarbeiter bei der Entnahme von Waren beobachtet worden war, benannte er in einem Personalgespräch weitere Mitarbeiter, die strafbare Handlungen begangen haben sollen. Im Zuge von weiteren Personalmaßnahmen machten die Mitarbeiter F… Si…, A… Si… und T… Sa… im Februar 2006 Angaben zu weiteren Vorfällen, an denen auch der Beteiligte G… beteiligt gewesen sein soll. Am 15. Februar 2006 hörte die Antragstellerin den Beteiligten zu 3) zu bestimmten Vorwürfen an.
Mit Schreiben vom 20. Februar 2006 beantragte die Antragstellerin beim Betriebsrat die Zustimmung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3). In dem Anhörungsschreiben ist ua. ausgeführt:
“Aus den dargestellten Gründen und den vorgelegten Unterlagen sind wir der Auffassung, dass Herr G… folgende schwerwiegende Vertragsverletzungen begangen hat:
– Verletzung seiner Pflichten als Hofmeister bei bekannt gewordenen Diebstählen und weiteren Straftaten
– Teilnahme/Anstiftung bzw. Nötigung von Mitarbeitern zu Falschanzeigen bzw. Erpressung
– Teilnahme/Anstiftung zu falschen Zeugenaussagen und Billigung und Verdeckung von ihm bekannt gewordenen Straftaten
Aus den genannten Gründen ist jede weitere Beschäftigung für uns nicht mehr zumutbar, so dass wir Sie bitten, unserem Antrag auf Zustimmung zur fristlosen Kündigung von Herrn G… stattzugeben.”
Mit Schreiben vom 23. Februar 2006 lehnte der Betriebsrat die beantragte Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung ab, weil er die Behauptungen der Antragstellerin nicht als bewiesen ansah.
Mit dem beim Arbeitsgericht Würzburg am 24. Februar 2006 eingegangenen Antrag hat die Antragstellerin die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3) begehrt. Zur Begründung ihres Antrags hat sie ua. ausgeführt: Es bestehe auf Grund von zahlreichen Zeugenaussagen der dringende Verdacht, der Beteiligte G… habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten in erheblichem Umfange verletzt. Er habe vor ca. zweieinhalb Jahren einen von dem Mitarbeiter Si… begangenen Diebstahl aus einem Kundenpaket in der Verklebestation, über den ihn der Mitarbeiter T… Sa… informiert habe, nicht weiter verfolgt oder weiter gemeldet. Auch habe er arbeitsteilig mit dem Betriebsratsvorsitzenden T… die Gebrüder Si… zu einer Falschaussage gegenüber dem Mitarbeiter Ö… genötigt sowie wahrheitswidrige falsche Angaben im Zusammenhang mit der Betriebsratssitzung vom 3. Oktober 1996 und dem Kündigungsvorwurf gegenüber dem Arbeitnehmer B… gemacht. Schließlich bestehe auf Grund der Aussage des Leiharbeitnehmers K… der Verdacht, der Beteiligte zu 3) habe aktiv die Verfolgung von Mitarbeitern, die arbeitsrechtlich in seinen Verantwortungsbereich als Hofmeister fielen, wegen Diebstahl verhindert.
Die Antragstellerin hat zuletzt beantragt,
die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3) zu ersetzen.
Der Betriebsrat und der Beteiligte zu 3) haben beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie vertreten die Auffassung, die Zustimmung könne schon deshalb nicht ersetzt werden, weil der Betriebsrat zu einer Tatkündigung beteiligt worden sei, die begehrte Zustimmungsersetzung nunmehr aber auf einen Verdacht gestützt werde. Im Übrigen lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen dringenden Verdacht erheblicher Pflichtverletzungen des Beteiligten zu 3) vor.
Das Arbeitsgericht hat dem Zustimmungsersetzungsantrag entsprochen. Auf die Beschwerde des Betriebsrats und des Beteiligten zu 3) hat das Landesarbeitsgericht den erstinstanzlichen Beschluss abgeändert und den Zustimmungsersetzungsantrag zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt die Antragstellerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin ist begründet.
Das Landesarbeitsgericht durfte den Zustimmungsersetzungsantrag der Antragstellerin vom 24. Februar 2006 nicht mit der Begründung zurückweisen, sie habe die Zustimmung des Betriebsrats mit dem Hinweis auf eine Tatkündigung wegen nachgewiesener Pflichtverletzung beantragt, im Zustimmungsersetzungsverfahren hingegen den Antrag auf den dringenden Verdacht erheblicher Pflichtverletzungen begehrt. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit schon nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für die von ihm angenommene “Tatkündigung” vorliegen, weil sich aus dem dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt erhebliche Pflichtverletzungen des Beteiligten zu 3) ergeben, die eine Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 Abs. 1 BGB rechtfertigen könnten. Zudem hat das Landesarbeitsgericht nicht hinreichend aufgeklärt und gewürdigt, ob nicht die dem Betriebsrat gegebene Begründung für die begehrte Zustimmung auch eine Verdachtskündigung umfasst, insbesondere der Betriebsrat am 13. Februar 2006 und damit vor der mit Schreiben vom 20. Februar 2006 beantragten Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung des Beteiligten zu 3) nicht mündlich ausreichend gegenüber dessen Vorsitzenden über mögliche Verdachtsaspekte und eine Verdachtskündigung informiert worden ist.
I. Das Landesarbeitsgericht hat die den Zustimmungsersetzungsantrag zurückweisende Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, die Antragstellerin habe gegenüber dem Betriebsrat ihren schriftlichen Antrag nur auf eine Tatkündigung wegen nachgewiesener Pflichtverletzungen gestützt. Sie könne sich deshalb im gerichtlichen Zustimmungsersetzungsverfahren nicht mehr auf eine Verdachtskündigung berufen. Dies setze vielmehr voraus, dass sie den Betriebsrat zuvor erneut und vergeblich wegen einer Verdachtskündigung um eine Zustimmung ersucht hätte, was jedoch nicht geschehen sei.
II. Dem kann der Senat nicht folgen.
1. Es fehlt schon an einer ausreichenden Prüfung, ob der vorliegende Sachverhalt eine Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 103 Abs. 1 BetrVG iVm. § 626 Abs. 1 BGB rechtfertigt, weil erhebliche Pflichtverletzungen des Beteiligten G… für einen wichtigen Grund zur außerordentlichen (Tat-)Kündigung sprechen.
a) Nach § 103 Abs. 1 BetrVG bedarf die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrats der Zustimmung des Betriebsrats. Nach § 103 Abs. 2 Satz 1 BetrVG iVm. § 15 KSchG hat die Arbeitgeberin einen Anspruch auf Ersetzung der Zustimmung, wenn die beabsichtigte außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist. Dies setzt einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB voraus. Es müssen also Tatsachen vorliegen, auf Grund derer der Arbeitgeberin unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann (so schon Senat 22. August 1974 – 2 ABR 17/74 – BAGE 26, 219).
b) Ob das Verhalten des Beteiligten G… geeignet ist, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen (Tat-)Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB darzustellen, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und geprüft. Dies wird es nachzuholen und zu würdigen haben.
aa) Der bloße Hinweis des Landesarbeitsgerichts, das Vorbringen der Antragstellerin habe sich ausschließlich auf das Vorliegen von Verdachtsmomenten und nicht auf begangene Taten bezogen, trägt jedenfalls die Zurückweisung des Antrags allein noch nicht. Aus dem Vorbringen der Antragstellerin ist ohne Weiteres zu entnehmen, dass sie der Auffassung ist, die aus ihrer Sicht vorliegenden Pflichtverletzungen rechtfertigten eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund in jedem Fall.
bb) Ob die behaupteten Pflichtverletzungen tatsächlich vorliegen, ist jedoch zwischen den Beteiligten streitig. Dies wird das Landesarbeitsgericht ggf. aufzuklären haben. Liegen arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen vor, bleibt vom Landesarbeitsgericht zu würdigen, ob sie so erheblich sind, um das seit 1983 bestehende Arbeitsverhältnis auch fristlos beenden zu können.
2. Ob der Antrag auf Zustimmungsersetzung ggf. auch deshalb begründet ist, weil Tatsachen vorliegen, die den dringenden Verdacht rechtfertigen, der Beteiligte zu 3) habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten in erheblichem Umfange verletzt, bedarf einer weiteren Prüfung.
a) Im Ansatz zutreffend geht das Landesarbeitsgericht davon aus, dass für den Fall, dass die Antragstellerin den Zustimmungsersetzungsantrag allein auf eine nachgewiesene Pflichtverletzung des Beteiligten zu 3) gestützt hat, eine Zustimmungsersetzung nicht ohne Weiteres auf den dringenden Verdacht einer erheblichen Pflichtverletzung gestützt werden kann.
aa) Der Arbeitgeber hat die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung eines Betriebsratsmitglieds unter Angabe der Kündigungsgründe – wie nach § 102 Abs. 1 BetrVG – beim Betriebsrat zu beantragen (vgl. Fitting § 103 Rn. 33; Raab in GK-BetrVG 8. Aufl. § 103 Rn. 45; KR-Etzel 8. Aufl. § 103 BetrVG Rn. 66; v. Hoyningen- Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 15 Rn. 108). Damit dieser über die Zustimmung entscheiden kann, muss er die Gründe kennen, die für die Maßnahme des Arbeitgebers ursächlich sind. Der Arbeitgeber ist daher verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die außerordentliche Kündigung mitzuteilen. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Informationen gelten hierbei dieselben Grundsätze wie zur Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG (vgl. insb. Raab in GK-BetrVG § 103 Rn. 51; KR-Etzel § 103 BetrVG Rn. 65; Richardi/Thüsing BetrVG 11. Aufl. § 103 Rn. 41; BAG 18. August 1977 – 2 ABR 19/77 – BAGE 29, 270; 29. November 1984 – 2 AZR 581/83 –). Dementsprechend muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Gründe für seinen Kündigungsentschluss im Einzelnen mitteilen (vgl. insb. KR-Etzel § 103 Rn. 67; § 102 Rn. 62). Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dem Betriebsrat seine Kündigungsabsicht mitzuteilen, die Person des zu kündigenden Arbeitnehmers genau zu bezeichnen und die Kündigungsgründe anzugeben. Er muss den Betriebsrat über alle Aspekte unterrichten, die ihn zur Kündigung veranlasst haben.
Will der Arbeitgeber seine Kündigung in erster Linie auf den dringenden Verdacht einer erheblichen arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung stützen, muss er dies dem Betriebsrat mitteilen und die Umstände angeben, aus denen sich der konkrete Verdacht ergeben soll. Informiert er den Betriebsrat nur über eine aus seiner Sicht nach erfolgte Vertragspflichtverletzung des Arbeitnehmers, kann er sich im späteren Kündigungsschutzprozess zur Begründung der Kündigung nicht mehr auf den Verdacht stützen, wenn die Verdachtsmomente bei Ausspruch der Kündigung bekannt waren. Insoweit liegt ein unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen vor (vgl. KR-Etzel § 102 BetrVG Rn. 64b; Senat 29. Juni 1989 – 2 AZR 456/88 – RzK III 2b Nr. 10; 3. April 1986 – 2 AZR 324/85 – EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 63; LAG Köln 31. Oktober 1997 – 11 (8) Sa 665/97 – LAGE BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7). Der Verdacht einer strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, der im Tatvorwurf nicht enthalten ist (vgl. BAG 10. September 1982 – 7 AZR 201/80 –; 3. April 1986 – 2 AZR 324/85 –). Die Mitteilung, einem Arbeitnehmer solle wegen Verdachts einer Handlung gekündigt werden, gibt dem Betriebsrat einen weit stärkeren Anlass für ein umfassendes Tätigwerden im Anhörungs- bzw. im Zustimmungsersetzungsverfahren als eine Beteiligung wegen einer als erwiesen behaupteten Handlung oder Pflichtverletzung. Der Betriebsrat kann sich in diesen Fällen veranlasst sehen, von einer eigenen Stellungnahme abzusehen und die Klärung des Tatvorwurfs dem Kündigungsschutzverfahren zu überlassen. Gibt der Arbeitgeber dagegen selbst zu erkennen, er hege lediglich einen Verdacht gegen den Arbeitnehmer, so erhebt der Betriebsrat erfahrungsgemäß eher nachdrückliche Gegenvorstellungen (vgl. bspw. BAG 3. April 1986 – 2 AZR 324/85 – aaO).
bb) Etwas anderes folgt auch nicht allein aus dem Umstand, dass der Arbeitgeber während des Zustimmungsersetzungsverfahrens grundsätzlich noch neue Gründe vorbringen kann. Anders als beim Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG, können nicht nur solche Tatsachen nachgeschoben werden, die bei Einleitung des Zustimmungsersetzungsverfahrens bereits vorlagen, sondern vielmehr auch solche Umstände, die erst im Laufe des Verfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss eintreten (vgl. bspw. Senat 22. August 1974 – 2 ABR 17/74 – BAGE 26, 219; KR-Etzel § 103 BetrVG Rn. 118; Raab in GK-BetrVG § 103 Rn. 74). Auch können bei Einleitung des Verfahrens vorliegende Tatsachen ohne Rücksicht darauf nachgeschoben werden, ob sie dem Arbeitgeber bekannt waren oder nicht (vgl. KR-Etzel § 103 BetrVG Rn. 118; Raab in GK-BetrVG § 103 Rn. 74). Der Zweck des Zustimmungsersetzungsverfahrens, die Unbefangenheit der Amtsführung durch den Schutz vor unberechtigten Kündigungen zu gewährleisten, wird durch das nachträgliche Vorbringen weiterer Kündigungsgründe nicht beeinträchtigt. Der Betriebsrat bleibt nach wie vor frei, über seine Zustimmung zu entscheiden und die Wirksamkeit einer Kündigung zu verhindern (Raab in GK-BetrVG § 103 Rn. 74). Da das gerichtliche Verfahren grundsätzlich nur im Falle der Zustimmungsverweigerung einzuleiten ist, mithin dem betrieblichen Zustimmungsverfahren nachgeordnet ist, muss der Arbeitgeber aber den Betriebsrat zuvor Gelegenheit geben, seine Stellungnahme im Lichte der neuen Tatsachen zu überprüfen (vgl. Senat 22. August 1974 – 2 ABR 17/74 – aaO; 27. Mai 1975 – 2 ABR 125/74 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 4; 27. Januar 1977 – 2 ABR 77/76 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 7 = EzA BetrVG 1972 § 103 Nr. 16; 10. Februar 1977 – 2 ABR 80/76 – BAGE 29, 7; KR-Etzel § 103 BetrVG Rn. 118; Richardi/Thüsing § 103 Rn. 72; Fitting § 103 Rn. 42; Raab in GK-BetrVG § 103 Rn. 74). Die Behandlung neuer Gründe durch den Betriebsrat wird nicht dadurch ersetzt, dass der Vorsitzende des Betriebsrats durch Teilnahme am Beschlussverfahren davon erfährt (vgl. Senat 27. Mai 1975 – 2 ABR 125/74 – aaO).
b) Dass im Streitfall die Antragstellerin den Betriebsrat über den beabsichtigten Kündigungsgrund nur im Hinblick auf eine Tatkündigung informiert und ihm keine Gelegenheit gegeben hat, sich auch zu einer Verdachtskündigung zu positionieren, steht auf Grund der bisherigen tatrichterlichen Feststellungen noch nicht abschließend fest.
aa) Soweit das Landesarbeitsgericht dem Anhörungsschreiben vom 20. Februar 2006 entnommen hat, die Antragstellerin habe den Betriebsrat lediglich zu einer “Tatkündigung” beteiligen wollen, tragen seine Ausführungen die Auslegung nicht.
(1) Die Auslegung atypischer Verträge und Willenserklärungen ist zwar grundsätzlich Sache der Tatsachengerichte und durch das Rechtsbeschwerdegericht nur darauf zu überprüfen, ob bei der Auslegung die Rechtsvorschriften über die Auslegung (§§ 133, 157 BGB) richtig angewandt worden sind, der Tatsachenstoff vollständig verwertet und nicht gegen allgemeine Denkgesetze und Erfahrungsgrundsätze verstoßen worden ist (vgl. zuletzt bspw. BAG 19. August 1975 – 1 AZR 565/74 – BAGE 27, 218, 227; 28. Mai 2007 – 7 AZR 318/06 – AP TzBfG § 14 Nr. 38).
(2) Das Landesarbeitsgericht hat aber bei der Auslegung des Einleitungsschreibens den Auslegungsstoff nicht vollständig herangezogen. Zum einen enthält das Schreiben vom 20. Februar 2006 selbst deutliche Anhaltspunkte für die Annahme, die Antragstellerin habe den Betriebsrat auch zu einer Verdachtskündigung beteiligen wollen (siehe auch Senat 20. August 1997 – 2 AZR 620/96 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 27 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7). Zum anderen hat die Rechtsbeschwerdeführerin zu Recht gerügt, der Sachverhalt sei vom Landesarbeitsgericht nicht vollständig erfasst worden. Insbesondere sei der vom Arbeitsgericht festgestellte Streitstoff nicht vollständig verwertet worden, das Landesarbeitsgericht sei vor allem auf eine dem Betriebsratsvorsitzenden gegebene Information vom 13. Februar 2006 nicht eingegangen. In der Tat hatte das Arbeitsgericht ausgeführt (S. 8 seines Beschlusses), dass “am 13.02.2006 Herr T… in seiner Funktion als Betriebsratsvorsitzender über die bestehenden Verdachtsmomente gegen ihn und G…, resultierend ua. aus den Aussagen der Herren Si…, Sa…, K… und B… informiert und zu den beabsichtigten Verdachtskündigungen angehört worden (war)”. Dieses Vorbringen erwähnt das Landesarbeitsgericht in seinen Beschlussgründen nicht. Sollte es zutreffen, wäre es bei der Auslegung des Einleitungsschreibens bzw. der Einleitung der Betriebsratsbeteiligung zu berücksichtigen gewesen.
bb) Sollte sich der Vortrag der Antragstellerin als zutreffend herausstellen, könnte der Betriebsrat auch ausreichend zur einer möglichen Verdachtskündigung informiert worden sein. In diesem Fall wäre der Zustimmungsersetzungsantrag dann ggf. auch unter dem Aspekt eines dringenden Verdachts einer erheblichen Pflichtverletzung vom Landesarbeitsgericht näher zu würdigen.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Bartz, Grimberg
Fundstellen
Haufe-Index 2018635 |
DB 2008, 1756 |