Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung. Massenentlassung. verspätete Antragstellung und Vertrauensschutz
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2, § 17 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Freiburg – vom 1. September 2005 – 11 Sa 42/05 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revision noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der am 1. Januar 1964 geborene, ledige Kläger war seit dem 31. März 1991 bei der Beklagten als Maschinist beschäftigt.
Die Beklagte betrieb ein Unternehmen für Tief- und Straßenbau und befindet sich in der Liquidation. Nach dem Tode des Gesellschafters der Beklagten T… B… am 6. September 2004 beschloss dessen Erbengemeinschaft am 15. Oktober 2004, die Gesellschaft aufzulösen, keine neuen Aufträge mehr anzunehmen, nicht mehr an Ausschreibungen teilzunehmen, den Immobilienbestand zu veräußern, die bei den Banken beanspruchten Kontokorrentmittel zurückzuführen, die laufenden Aufträge zu Ende zu führen und nach deren Beendigung das bewegliche Anlagevermögen zu veräußern. Zwei weitere Betriebsstätten in den neuen Bundesländern sollten an deren technischen Leiter veräußert werden.
Am 20. Oktober 2004 beschloss die Erbengemeinschaft, die Gesellschaft mit Wirkung zum Ablauf des 31. Mai 2005 aufzulösen und bestimmte den Erben C… B… zum alleinigen Liquidator. In der Folgezeit wurden Mietverträge gekündigt, Kunden von der Auflösung in Kenntnis gesetzt, Telefonanschlüsse und Wartungsverträge sowie Zeitschriften, darunter das Bundesausschreibungsblatt, abbestellt.
Mit Schreiben vom 28. Oktober 2004 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. April 2005 mit der Begründung, auf Grund der wirtschaftlichen und finanziellen Situation werde der Betrieb stillgelegt und das Unternehmen nicht fortgeführt.
Die Agentur für Arbeit L… verfügte auf Massenentlassungsanzeige der Beklagten mit Bescheid vom 18. November 2004 für 48 Arbeitnehmer eine Freifrist vom 30. November 2004 bis 27. Februar 2005 und wies darauf hin, dass für die ihr bereits mündlich bekannten Entlassungstermine ab 31. März 2004 es einer erneuten Anzeige bedürfe. Auf die entsprechende Anzeige der Beklagten vom 26. Januar 2005 setzte die Agentur für Arbeit L… mit undatiertem Bescheid für weitere 35 Arbeitnehmer eine Freifrist für die Zeit vom 27. Februar 2005 bis 27. Mai 2005 fest.
Mit seiner Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigung gewandt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die beabsichtigte Auflösung der Gesellschaft und des Betriebs mache keinen erkennbaren wirtschaftlichen Sinn. Im Übrigen sei die Kündigung wegen fehlender bzw. fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam.
Der Kläger hat – soweit für die Revision noch von Interesse – zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 28. Oktober 2004 beendet worden ist.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags vorgetragen: Die Erbengemeinschaft des verstorbenen Gesellschafters habe die Stilllegung beschlossen. Zum Kündigungszeitpunkt habe die Stilllegung bereits greifbare Formen angenommen. Die Massenentlassungsanzeige sei rechtzeitig und ordnungsgemäß vor der tatsächlichen Durchführung der Entlassung erstattet worden. Zumindest habe sie darauf vertrauen dürfen, dass sie die Massenentlassungsanzeige noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wirksam habe erstatten können.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Kündigung vom 28. Oktober 2004 ist weder sozialwidrig noch wegen einer verspäteten Massenentlassungsanzeige unwirksam.
A. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner die Klage abweisenden Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Kündigung sei wegen der beschlossenen und umgesetzten Betriebsstilllegung aus betriebsbedingten Gründen iSd. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt.
Es liege auch kein Gesetzesverstoß iSv. § 134 BGB iVm. §§ 17 ff. KSchG iVm. der Richtlinie des Rates 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom 20. Juli 1998 (im Folgenden: MERL) vor. Die Beklagte habe für die vorliegende Kündigung die Massenentlassung rechtzeitig vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses angezeigt. Es komme auf den Austritt aus dem Arbeitsverhältnis an. Daran habe auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 nichts geändert. Zudem sei der Beklagten Vertrauensschutz zu gewähren, zumal sie vor Ausspruch der Kündigung bereits eine Massenentlassungsanzeige für die Arbeitnehmer mit kürzeren Kündigungsfristen erstattet und die Agentur für Arbeit bereits mündlich auf die zum späteren Zeitpunkt wirkenden Kündigungen hingewiesen habe. Die Agentur für Arbeit habe ihr dann verbindlich mitgeteilt, für die Arbeitnehmer mit längeren Kündigungsfristen sei eine erneute, spätere Anzeige erforderlich.
B. Dem folgt der Senat im Ergebnis und in wesentlichen Teilen der Begründung. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Kündigung vom 28. Oktober 2004 das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. April 2005 rechtswirksam beendet hat.
I. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass für die ordentliche Kündigung vom 28. Oktober 2004 dringende betriebliche Erfordernisse vorlagen, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstanden. Die Beklagte hat die Betriebsstätte stillgelegt. Dies hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, ohne dass die Revision hiergegen irgendwelche Einwände vorgebracht hätte. Da am bisherigen Standort bei der Beklagten keine weitere Produktion mehr stattfindet und der Betrieb geschlossen ist, erübrigte sich auch eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG.
II. Entgegen der Auffassung der Revision – und nur mit diesem Aspekt setzt sich die Revision in der Revisionsbegründungsschrift überhaupt auseinander – ist die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.
1. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts war allerdings vor Ausspruch der Kündigung im Oktober 2004 die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG von der Beklagten anzuzeigen, da diese Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung iSd. § 17 KSchG war.
“Unter Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung angenommen hat (bestätigt durch BAG 21. September 2006 – 2 AZR 801/05 –; 1. Februar 2007 – 2 AZR 15/06 –; siehe auch BAG 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –).
2. Gleichwohl ist die Kündigung nicht rechtsunwirksam. Dem steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen. Der Senat hat hierzu die Grundsätze im Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281) im Einzelnen ausführlich dargestellt. Danach gilt Folgendes:
a) Die Gerichte als Teil der Staatsgewalt sind an das Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen bei Änderung ihrer Rechtsprechung, nicht anders als der Gesetzgeber bei Gesetzesänderungen, den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (BVerfG 14. Januar 1987 – 1 BvR 1052/79 – BVerfGE 74, 129, 154; BGH 18. Januar 1996 – IX ZR 69/95 – BGHZ 132, 6, 11; Löwisch FS Die Arbeitsgerichtsbarkeit S. 601, 610; Buchner Gedächtnisschrift R. Dietz S. 175). Vertrauensschutz bedeutet ua. Schutz vor Rückwirkung. Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbare Rechtsbedingungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Gleichwohl kann und darf ein Bürger auf die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Rechtslage und deren Bestand vertrauen. Er wird nicht unterscheiden müssen – und auch nicht können –, ob sich die Rechtslage direkt aus der Norm oder sich aus der Konkretisierung der Rechtsprechung ergibt. Dennoch soll sich der Betroffene darauf verlassen dürfen, dass an einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich keine anderen – ungünstigeren – Voraussetzungen gestellt werden, als sie zum Zeitpunkt der Vollendung des Sachverhalts gefordert wurden. Der Bürger darf erwarten und sich darauf verlassen, dass sein im Zeitpunkt der Handhabung rechtlich gefordertes Verhalten von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtwidrig oder als nicht ausreichend qualifiziert wird (BVerfG 22. März 1983 – 2 BvR 475/78 – BVerfGE 63, 343, 357). Anders als in den Fällen, in denen es um die – bloße – rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts geht, liefe es in den Fällen, in denen ein Gestaltungsrecht bereits ausgeübt worden ist, auf eine unzulässige, im Ergebnis echte Rückwirkung hinaus, wenn eine Rechtsprechungsänderung voll durchschlüge. Deshalb darf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Rechtsprechungsänderung regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei rückwirkend Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann (29. März 1984 – 2 AZR 429/83 (A) – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 55; 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 4; vgl. auch 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98 – AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; Düwell Das reformierte Arbeitsrecht Kap. 4 Abschn. 4 Rn. 17; Medicus WM 1997, 2333, 2337).
b) Zwar wirkt die Änderung einer auch lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, soweit dem nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist aber geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Rückwirkung auf andere vergleichbare Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde (vgl. BGH 29. Februar 1996 – IX ZR 153/95 – BGHZ 132, 119, 130; BAG 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 4).
c) Eine solche Situation ist nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall gegeben.
Die Beklagte konnte darauf vertrauen, richtig zu verfahren, wenn sie die Anzeige rechtzeitig vor Ablauf der Kündigungsfrist erstattete. Dies gilt umso mehr, als die Agentur für Arbeit mit Bescheid vom 18. November 2004 sogar ihr einen entsprechenden ausdrücklichen Hinweis gegeben hatte.
aa) Für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige hatte die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf die “Entlassung” und damit auf den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG abgestellt. Der Senat hat diese Auffassung in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) noch einmal umfassend bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung am 28. Oktober 2004 war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelung nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der genannten Entscheidung vom 18. September 2003 auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinandergesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG – das Verständnis von “Entlassung” als “Kündigung” im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – [Junk] EuGHE I 2005, 885) unterstellend – als nicht möglich angesehen hatte.
bb) Die ganz herrschende Meinung in der Literatur und die instanzgerichtliche Rechtsprechung hatten sich dieser Auffassung des Bundesarbeitsgerichts angeschlossen. Auch die Agenturen für Arbeit hatten ihre Verwaltungspraxis entsprechend eingerichtet.
cc) Diesen vorstehend genannten Umständen kommt im Rahmen der Prüfung, ob dem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ganz erhebliches Gewicht zu. Ein Arbeitgeber konnte und durfte sich insbesondere auf eine Entscheidung der Arbeitsverwaltung verlassen und sein Verhalten daran ausrichten (vgl. auch KR-Weigand 7. Aufl. § 17 KSchG Rn. 101; Mauthner: Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massentlassungsrecht S. 223 mwN; Kliemt FS 25 Jahre ARGE Arbeitsrecht S. 1237, 1250).
dd) Dieses Verfahren ist auch nicht durch relevante Aspekte vor dem Zugang der streitgegenständlichen Kündigung beseitigt worden. Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des nationalen § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 entfallen sein (Senat 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281; s. auch BAG 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17). Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Europäische Gerichtshof zur Auslegung der MERL und der hier maßgeblichen Frage vor der Entscheidung “Junk” am 27. Januar 2005 inhaltlich nicht judiziert und der Senat – wie dargestellt – den Begriff der Entlassung auch in Anbetracht der MERL eine andere Bedeutung beigemessen hatte.
Auch konnte das Vertrauen in die bisherige Rechtslage nicht durch die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 30. September 2004 (vgl. ZIP 2004, 2019) erschüttert werden (vgl. Senat 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281).
Schließlich konnten auch der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 (– 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, 1265) und die Thesen von Hinrichs in ihrer im Jahr 2001 erschienen Dissertation “Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassung” das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht relevant erschüttern. Es kann dahingestellt bleiben, wann dieser Vorlagenbeschluss allgemein bekannt geworden war. Jedenfalls brauchte sich die Beklagte durch die Entscheidung eines einzelnen Arbeitsgerichts und einzelner Literaturstimmen noch nicht in ihrem Vertrauen auf die Maßgeblichkeit einer bisher gefestigten ständigen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis irritieren zu lassen. Dies gilt – wie bereits ausgeführt – umso mehr, als der Senat noch in der Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) differenziert und umfassend zu dieser Thematik Stellung genommen und auch die Agentur für Arbeit im Entscheidungsfall die Beklagte sogar ausdrücklich auf die bisherige Verwaltungspraxis verwiesen hatte.
ee) Das Vertrauen der Beklagten ist auch schutzwürdig. Vorgehende schutzwürdige Interessen des Klägers sind nicht beeinträchtigt.
Es würde eine unzumutbare Härte für die Beklagte bedeuten, wenn die Kündigung allein wegen des durch die Rechtsprechungsänderung entstandenen formellen Fehlers unwirksam wäre. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs wurde eine entsprechende Anzeigepflicht weder von der ständigen Verwaltungspraxis, wie das Verhalten der Agentur für Arbeit plastisch zeigt, noch von der Rechtsprechung gefordert. Durch eine entsprechende Unwirksamkeit der Kündigung könnten deshalb nicht nur in zahlreichen Altfällen erhebliche finanzielle Nachteile entstehen. Auch dem mit der Anzeigepflicht verbundenen Zweck der MERL wäre nicht besser gedient. Die Anzeigepflicht bezweckt nach wie vor nicht primär einen Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung, sondern dient vorrangig dem Ziel einer effektiven Verwaltung der Massenentlassung und -arbeitslosigkeit und damit vor allem arbeitsmarktpolitischen Zwecken. Dementsprechend werden keine relevanten individual-rechtlich geschützten Interessen des Klägers betroffen. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass der Kläger einen Anspruch auf ein nach materiellem Recht richtiges Urteil hat (Medicus WM 1997, 2333, 2337). Eine Partei, die das Recht auf ihrer Seite hat, muss aber ein ihr ungünstiges Urteil ausnahmsweise hinnehmen, wenn dies der Vertrauensschutz für den Prozessgegner gebietet. Dieses ist anzunehmen, wenn nunmehr eine Handlung als fehlerhaft qualifiziert wird, die zur Zeit ihrer Vornahme der damals herrschenden Rechtsüberzeugung entsprach (Medicus NJW 1995, 2577, 2580; ders. WM 1997, 2333, 2337).
ff) Betrachtet man diese Aspekte und wägt sie gegeneinander ab, so ist im Hinblick auf das Vertrauen der Beklagten einerseits und unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers andererseits eine unzumutbare Härte anzuerkennen.
d) Der Senat konnte über die Gewährung von Vertrauensschutz selbst entscheiden und musste diese Frage nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.
Im Entscheidungsfall geht es nämlich nicht um einen Vertrauensschutz hinsichtlich der Auslegung europäischen Rechts, sondern um einen Vertrauensschutz bei der Auslegung nationalen Rechts durch die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281; 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17; 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –). Der Senat hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht “richtlinienkonform” angewendet, indem er den Begriff “Entlassung” in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der MERL verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (vgl. BAG 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –; Canaris FS Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30; BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – aaO) und nicht – wie beim Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. November 2005 (– C-144/04 – [Mangold] EuGHE I 2005, 9981) und den nachfolgenden nationalen Entscheidungen (BAG 26. April 2006 – 7 AZR 500/04 – AP TzBfG § 14 Nr. 23 = EzA TzBfG § 14 Nr. 28) um die Anwendung europäischen Primärrechts. Die hier maßgebliche Richtlinie 98/59/EG findet im nationalen Recht keine unmittelbare Anwendung. Sie entfaltet keine “horizontale unmittelbare Wirkung”. Demgemäß hat der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 27. Januar 2005 (-C-188/03 [Junk] EuGHE I 2005, 885) auch nicht entschieden, der MERL widersprechendes, nationales Recht sei unangewendet zu lassen.
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Grimberg, Niebler
Fundstellen