Leitsatz (amtlich)
1. Unter Verwerten i.S. des § 49 Abs.1 Nr.4 EStG ist der Vorgang zu verstehen, durch den der Arbeitnehmer das Ergebnis seiner nichtselbständigen Arbeit seinem Arbeitgeber zuführt.
2. Unter Verwerten i.S. des § 49 Abs.1 Nr.4 EStG kann nur ein Nutzbarmachen gemeint sein, das an einem Ort geschieht, der von dem der Ausübung verschieden sein kann.
Orientierungssatz
1. Ein ausländischer, im Ausland ansässiger Arbeitnehmer, der von einem inländischen Ingenieurbüro bei der Errichtung eines Bauwerks im Ausland eingesetzt wird, erzielt keine im Inland beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte aus der Verwertung nichtselbständiger Arbeit. Entgegen Abschn. 92 Abs. 2 Satz 2 LStR kann das Tatbestandsmerkmal "verwerten im Inland" nicht davon abhängen, ob der Arbeitslohn zu Lasten eines inländischen Arbeitgebers gezahlt wird. Der Senat gibt seine dem Urteil vom 6.4.1977 I R 252/74 zugrunde liegende Auffassung auf.
2. Für den Arbeitgeber besteht eine Verpflichtung zur Einbehaltung der Lohnsteuer nicht, wenn die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit nicht der Einkommensteuer unterliegen.
Normenkette
EStG § 49 Abs. 1 Nr. 4; LStR Abschn. 92 Abs. 2 S. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt ein inländisches Ingenieurbüro. Im Jahre 1978 setzte er bei der Errichtung eines Fabrikgebäudes in Algerien den Vermessungsingenieur N. ein. N., der portugiesischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Portugal ist, ist nach Auffassung des Klägers freier Mitarbeiter, nach Auffassung des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) Arbeitnehmer. Aufgrund einer Lohnsteueraußenprüfung sah das FA N. als beschränkt steuerpflichtig an und nahm den Kläger mit Haftungsbescheid für die auf die Vergütung des N. entfallende Lohn- und Lohnkirchensteuer in Anspruch. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte insofern Erfolg, als das FA den Haftungsbetrag minderte, soweit dieser sich auf die Kirchenlohnsteuer bezog.
Das Finanzgericht (FG) sah die dagegen erhobene Klage als begründet an.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 49 Abs.1 Nr.4 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet abzuweisen.
Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Eine Haftung des Klägers gemäß § 42d Abs.1 Nr.1 EStG besteht nicht. Der Kläger hatte für die an N. bezahlten Vergütungen auch dann keine Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen, wenn N. als Arbeitnehmer des Klägers anzusehen sein sollte. Lohnsteuer war für diesen Fall nicht von dem Kläger einzubehalten. Die Lohnsteuer ist nach § 38 Abs.1 Satz 1 EStG die durch Abzug vom Arbeitslohn bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erhobene Einkommensteuer. Eine Verpflichtung zur Einbehaltung der Lohnsteuer besteht nicht, wenn die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit nicht der Einkommensteuer unterliegen.
Die strittigen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit unterliegen nach § 2 Abs.1 Satz 1 EStG nicht der Einkommensteuer. N. ist --wie zwischen den Beteiligten unstreitig-- nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Er hat die strittigen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit auch nicht als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt. Inländische Einkünfte liegen nicht vor; die nichtselbständige Arbeit wurde --wie zwischen den Beteiligten unstreitig-- nicht im Inland ausgeübt (§ 49 Abs.1 Nr.4 EStG). Sie wurde auch nicht im Inland verwertet.
Unter "verwerten" i.S. des § 49 Abs.1 Nr.4 EStG ist der Vorgang zu verstehen, durch den der Arbeitnehmer das Ergebnis seiner nichtselbständigen Arbeit seinem Arbeitgeber zuführt. Dies ergibt sich aus der grammatischen Auslegung und dem Gesamtzusammenhang, in dem das Wort "verwerten" steht.
1. Das Wort "verwerten" kann sich auf einen Gegenstand in dem Sinne beziehen, daß der Wert, der in ihm steckt, herausgeholt wird und zunutze gemacht wird (vgl. Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, 12.Bd., I.Abteilung 1956, S.2233). Als Beispiel für die Verwendung des Wortes "verwerten" in der Gesetzessprache sei auf § 15 des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) hingewiesen, wonach der Urheber das ausschließliche Recht hat, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten (d.h., zu vervielfältigen, zu verbreiten und auszustellen). Der Nutzen der geleisteten Arbeit kann dort gezogen werden, wo die Arbeit ausgeübt wird. Es ist jedoch auch denkbar, den Nutzen an einem anderen Ort zu ziehen, vor allem bei Tätigkeiten, durch die ein geistiges Produkt hervorgebracht wird.
2. Unter Verwerten i.S. des § 49 Abs.1 Nr.4 EStG kann nur ein Nutzbarmachen gemeint sein, das an einem Ort geschieht, der von dem der Ausübung verschieden sein kann. Wenn der Gesetzgeber in § 49 Abs.1 Nr.4 EStG für das Vorliegen inländischer Einkünfte sowohl an die Ausübung als auch an die Verwertung der nichtselbständigen Arbeit anknüpft, kann sich der Begriff der Verwertung nur auf diejenigen Fälle beziehen, in denen die nichtselbständige Arbeit an einem Ort verwertet wird, der nicht mit dem der Ausübung übereinstimmt. Für die Fälle, in denen die nichtselbständige Arbeit nur am Ort der Ausübung verwertet werden kann, hätte es des Anknüpfungsmerkmals der Verwertung neben dem der Ausübung nicht bedurft.
3. Zwar läßt der Wortlaut des § 49 Abs.1 Nr.4 EStG durch den Gebrauch des Passivs ("verwertet wird oder worden ist") offen, wen die Vorschrift als Verwerter voraussetzt. Der Gesamtzusammenhang, in dem die Vorschrift steht, ergibt jedoch, daß nur der Arbeitnehmer als Verwerter in Betracht kommt.
Nach § 2 Abs.1 EStG unterliegen der Einkommensteuer die dort bezeichneten Einkünfte, die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt. Dies spricht dafür, daß im Zweifel die Tatbestandsmerkmale, an die das Gesetz die Steuerpflicht knüpft (§ 3 Abs.1 des Steueranpassungsgesetzes --StAnpG-- = § 38 der Abgabenordnung --AO 1977--), von demjenigen zu verwirklichen sind, der als Steuerpflichtiger in Betracht kommt.
In § 49 Abs.1 EStG werden, wie die Bezugnahme auf § 1 Abs.3 EStG in der für das Streitjahr gültigen Fassung zeigt, diejenigen Einkünfte einer natürlichen Person aufgezählt, die bei ihr zur beschränkten Einkommensteuerpflicht führen, wenn sie im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Katalog des § 49 Abs.1 EStG enthält zum überwiegenden Teil keine Fälle, in denen die Steuerpflicht von einem Dritten in dem Sinne abhängig gemacht wird, daß dessen Verhalten zu einem Merkmal des Tatbestandes im engeren Sinne rechnet. Wenn § 49 Abs.1 Nr.5 EStG auf Verhältnisse eines Dritten (Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland) abstellt, handelt es sich um allgemeine Anknüpfungsmerkmale, die nicht zu dem Tatbestand im engeren Sinne zählen, von dem die Steuerpflicht abhängt.
Soweit § 49 Abs.1 EStG, nämlich in § 49 Abs.1 Nr.3 EStG, auf das Tatbestandsmerkmal "verwerten" neben dem der "Ausübung" abstellt, wird es in dem Sinne verstanden, daß es auf die Verwertung durch denjenigen ankommt, der als Steuerpflichtiger in Betracht kommt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16.Dezember 1970 I R 137/68, BFHE 101, 73, BStBl II 1971, 200; vom 13.Oktober 1976 I R 261/70, BFHE 120, 225, BStBl II 1977, 76). Das BFH-Urteil vom 23.Mai 1973 I R 163/71 (BFHE 111, 29, BStBl II 1974, 287) betrifft den Begriff der Verwertung in § 49 Abs.1 Nr.6 EStG, einer Vorschrift, nach der nicht auch die Ausübung maßgebend ist.
In § 40 Abs.2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) 1971 war ausgeführt, daß die nichtselbständige Arbeit im Inland verwertet wird, wenn ihr wirtschaftlicher Erfolg der inländischen Volkswirtschaft unmittelbar zu dienen bestimmt ist. Der Senat muß darauf nicht eingehen; denn die Vorschrift wurde mit Wirkung vom 1.Januar 1975 aufgehoben (vgl. § 1 Nr.10 der Änderungsverordnung vom 12.Dezember 1974, BGBl I 1974, 3462). Zwar wurde in der Begründung zum EStG 1935 der Begriff der Verwertung in derselben Weise interpretiert wie in § 40 Abs.2 LStDV 1971 (vgl. Begründung zum EStG 1934, RStBl 1935, 33, 59). Dies steht jedoch einer davon abweichenden Auslegung einer Gesetzesvorschrift nicht entgegen. Maßgebend ist der in ihr zum Ausdruck kommende objektive Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den dieser hineingestellt ist.
Der Senat vertritt damit eine andere Auffassung als die, die in den Lohnsteuer-Richtlinien (Abschn.92 Abs.2 Satz 2) zum Ausdruck kommt. Insbesondere kann das Tatbestandsmerkmal "verwerten im Inland" nicht davon abhängen, ob der Arbeitslohn zu Lasten eines inländischen Arbeitgebers gezahlt wird. Das Gesetz stellt in § 49 Abs.1 Nr.4 EStG für bestimmte Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit darauf ab, ob sie aus inländischen öffentlichen Kassen gewährt werden. Daraus ist zu entnehmen, daß es bei anderen Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit nicht auf den Zahlungsvorgang ankommen kann.
Der Senat gibt seine dem Urteil vom 6.April 1977 I R 252/74 (BFHE 122, 94, BStBl II 1977, 575) zugrunde liegende Auffassung auf. Das Urteil hatte einen Streitfall zum Gegenstand, auf den die inzwischen aufgehobene Vorschrift des § 40 Abs.2 LStDV 1971 zur Anwendung kam. Das Urteil vom 15.September 1971 I R 202/67 (BFHE 103, 557, BStBl II 1972, 281) betraf die Mitwirkung eines Filmschauspielers an einem Film, der teils im Inland, teils im Ausland gedreht wurde. Das Urteil läßt für den Ort der Verwertung nicht entscheidend sein, wo der Film aufgeführt wurde, sondern stellt darauf ab, wo der Film unter Mitwirkung des Schauspielers entstand. Dies entspricht den oben dargestellten Grundsätzen. Der Schauspieler überträgt dem Hersteller vertraglich das ausschließliche Recht, das Filmwerk auf alle bekannten Nutzungsarten zu nutzen (§ 89 UrhG). Diese Leistung wird in der Regel dort erbracht, wo der Film hergestellt wird. Auf den Ort der Aufführung des Filmes kam es nicht an, weil es sich dabei um die Verwertung eines dem Filmhersteller zustehenden Rechts (§ 94 UrhG) handelt, das dieser durch die Verwertung der Werke der Mitwirkenden (§ 89 UrhG) geschaffen hat.
4. Nach dieser Auslegung des Wortes "verwerten" wurde die von N. in Algerien ausgeübte Tätigkeit nicht im Inland verwertet. N. hat dem Kläger das Ergebnis der nichtselbständigen Arbeit in Algerien zugeführt.
Fundstellen
BStBl II 1987, 383 |
BFHE 148, 303 |
BFHE 1987, 303 |
HFR 1987, 297-297 (ST) |
Information StW 1987, 135-136 (ST) |
RIW/AWD 1987, 240-240 (T) |