Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) von Beruf kaufmännischer Angestellter, gewährte einem Berliner Bankunternehmen im Jahr 1976 ein Darlehen gemäß § 17 Abs. 5 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG) in Höhe von 20 000 DM. In seiner Einkommensteuererklärung für dieses Jahr, die er ohne Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe erstellte, ließ er die Rubrik "sonstige Angaben" auf Seite 2 des Erklärungsformulars, in der u. a. nach Darlehen i. S. der §§ 16, 17 BerlinFG gefragt ist, unausgefüllt. Der Einkommensteuerbescheid für 1976, in dem die Darlehenshingabe mangels Angaben in der Einkommensteuererklärung nicht berücksichtigt war, wurde am 30. Mai 1977 bestandskräftig. Ende 1978 beantragte der Kläger die Gewährung der Steuervergünstigung gemäß § 17 BerlinFG und legte zur Begründung die ihm von der Bank übersandte Bescheinigung vor. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte es auch in der Einspruchsentscheidung ab, den Einkommensteuerbescheid zu ändern.
Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1980, 531 veröffentlichten Urteil der Klage statt. Es hielt das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) für verpflichtet, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr unter Berücksichtigung der nachträglich bekanntgewordenen Tatsache der Hingabe des Berlindarlehens zugunsten des Klägers zu ändern, weil diesen kein grobes Verschulden daran treffe, daß die Darlehenshingabe erst nach Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides dem FA bekanntgeworden sei.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Es ist der Auffassung, das FG habe den Rechtsbegriff des groben Verschuldens verkannt. Im Streitfall treffe den Kläger ein grobes Verschulden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
Das FG hat zu Unrecht angenommen, daß das FA verpflichtet sei, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 unter Berücksichtigung der sich nach § 17 BerlinFG ergebenden Steuervergünstigung zu ändern.
Nach der erstgenannten Vorschrift sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Im Streitfall ist der Umstand, daß der Kläger ein steuerbegünstigtes Darlehen gegeben hat, eine Tatsache im Sinne dieser Vorschrift. Diese Tatsache ist dem FA nachträglich, nämlich nach Durchführung der Veranlagung für das Streitjahr, bekanntgeworden.
Das FG hat aber zu Unrecht angenommen, daß den Kläger kein grobes Verschulden - in Form der im Streitfall allein in Betracht kommenden groben Fahrlässigkeit - am nachträglichen Bekanntwerden der Darlehenshingabe treffe.
Ob ein Beteiligter grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können - mit Ausnahme hier nicht erhobener Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind, und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, 555, 556, BStBl II 1983, 324, 328, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Im Streitfall hat das FG zwar zutreffend angenommen, daß ein Steuerpflichtiger grob schuldhaft i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 handelt, wenn er die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (vgl. Urteile in BFHE 137, 547, 555, BStBl II 1983, 324, 328, und in BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Es hat jedoch die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten verkannt.
Das FG hat den Sachverhalt dahin gewürdigt, daß es angesichts der Kompliziertheit und des Umfangs der steuerrechtlichen Bestimmungen eine Überspannung der vom Steuerpflichtigen zu erwartenden Sorgfalt darstellen würde, ihm grobes Verschulden vorzuwerfen, wenn er es unterlassen habe, das Einkommensteuererklärungsformular und den dazu gehörigen Erläuterungstext durchzulesen und sämtliche Erläuterungen, die den Erklärungsformularen beigefügt sind, bis ins einzelne zu beachten. Zudem dürfe nicht übersehen werden, daß der Aufbau des Erklärungsformulars, in dem nach Darlehen i. S. der §§ 16, 17 BerlinFG gefragt werde, für einen steuerlichen Nichtfachmann Irrtümer hervorrufen könne. Außerdem habe der Kläger - soweit ersichtlich - zum ersten Mal ein Darlehen nach dem BerlinFG hingegeben. Der Umstand, daß der Kläger bei Abgabe seiner Steuererklärung an Amtsstelle nicht auf das Berlindarlehen hingewiesen habe, spreche dafür, daß er geglaubt habe, die Vergünstigung werde unabhängig von einem Antrag gewährt. Bei dieser Sachlage treffe den Kläger allenfalls ein einfaches, aber kein grobes Verschulden. Diese Würdigung verkennt die aus dem Begriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden, dem Kläger im Streitfall obliegenden Sorgfaltspflichten. Nach § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 hat der Steuerpflichtige die Angaben in der Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Die Verletzung dieser generellen Sorgfaltspflicht ist schuldhaft, wenn der Steuerpflichtige nach den Gegebenheiten des Einzelfalles und seinen individuellen Fähigkeiten in der Lage war, diesen Anforderungen zu genügen (Urteil in BFHE 137, 547, 555, BStBl II 1983, 324, 328). Um die Angaben in der Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß machen zu können, muß ein Steuerpflichtiger das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Unterläßt er dies, so handelt er jedenfalls dann regelmäßig grob fahrlässig i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977, wenn er deshalb eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet.
Im Streitfall war im Steuererklärungsformular ausdrücklich nach einem bestimmten Vorgang, nämlich der Hingabe eines Berlindarlehens i. S. des § 17 BerlinFG, gefragt. Darum hätte der Kläger, wenn er - wie es von ihm zu verlangen war - das Steuererklärungsformular gewissenhaft durchgelesen hätte, erkennen können und müssen, daß er dem FA die Hingabe des Darlehens mitzuteilen hatte. Daß er dazu nicht in der Lage gewesen wäre, hat das FG nicht festgestellt. Hinzu kommt, daß derartige Darlehen in erster Linie zur Erlangung eines Steuervorteils hingegeben werden. Dieser Umstand hätte dem Kläger um so mehr Anlaß bieten müssen, sich zu vergewissern, ob über die Darlehenshingabe Angaben in der Steuererklärung zu machen sind. Da der Kläger die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten nicht beachtet hat, trifft ihn ein die Änderung des Steuerbescheides zu seinen Gunsten ausschließendes grobes Verschulden.
Fundstellen
Haufe-Index 75068 |
BStBl II 1984, 693 |
BFHE 1985, 232 |