Leitsatz (amtlich)
1. Steuerbescheide sind nach den Vorschriften der Abgabenordnung in der Regel auch dann den Steuerpflichtigen selbst bekanntzugeben, wenn sich diese gegenüber der Finanzbehörde durch einen Steuerberater vertreten lassen.
2. Nimmt das FA in den Erläuterungen des Steuerbescheids auf eine telefonische Rücksprache mit dem Steuerberater Bezug, so hat es in der Regel der Steuerpflichtige zu vertreten, wenn er darauf vertraut, der Steuerberater habe die Besteuerungsgrundlagen gebilligt, und wenn er es daher unterläßt, den Steuerbescheid innerhalb der Einspruchsfrist anzufechten.
Normenkette
AO 1977 §§ 80, 91, 110, 121, 126 Abs. 3
Tatbestand
Streitig ist, ob nach Versäumen der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung - AO 1977 -) zu gewähren ist.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Ehemann (der Kläger) betreibt einen Altmaterialienhandel. Für 1974 und 1975 hatten die Kläger ihre Einkommensteuererklärungen gleichzeitig abgegeben. Der Gewinn aus dem Gewerbebetrieb des Klägers war auf jeweils 70 v. H. der Betriebseinnahmen geschätzt worden. Bis 1973 war der Gewinn durch Überschußrechnung, von 1976 an durch Bestandsvergleich ermittelt worden. Aufgrund der Schätzung hatte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) am 7. Januar 1977 für das Streitjahr 1974 einen endgültigen Einkommensteuerbescheid erlassen.
Während einer Betriebsprüfung im Juli 1978, die die Jahre 1975 bis 1977 umfaßte, kam das FA zu dem Ergebnis, daß auch für 1974 und 1975 anstelle der Schätzungen Überschußrechnungen anhand von Unterlagen erstellt werden konnten. Daraufhin dehnte das FA zunächst den Prüfungszeitraum auf 1974 aus, nahm diese Prüfungsanordnung aber aufgrund einer von den Klägern erhobenen Beschwerde nach Einschalten der Oberfinanzdirektion (OFD) mit Schreiben vom 19. Oktober 1978 wieder zurück. Am selben Tag unterrichtete ein Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle des FA telefonisch hiervon den steuerlichen Berater und Prozeßbevollmächtigten der Kläger, Herrn P. Er teilte ihm mit, daß nunmehr beabsichtigt sei, ohne Einschalten der Betriebsprüfung eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 1974 nach § 173 AO 1977 wegen Bekanntwerdens neuer Tatsachen vorzunehmen. Außerdem gab er die von ihm durchgeführte Berechnung des gewerblichen Gewinns für 1974 bekannt, übermittelte das entsprechende Zahlenwerk und nannte die voraussichtlichen Mehrsteuern.
Mit Änderungsbescheid vom 20. Oktober 1978 (zur Post gegeben am selben Tag) nahm das FA die tags zuvor angekündigte Änderung der Einkommensteuerveranlagung 1974 vor. Zur Begründung führte es aus: ,,Die Änderungen erfolgen aufgrund neuer Tatsachen, vergleiche hierzu Telefonat mit Herrn P am 19. Oktober 1978."
Mit Schreiben vom 24. November 1978 legten die Kläger hiergegen Einspruch ein und beantragten gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie führten aus, es sei nicht erkennbar, wie das FA den Gesamtgewinn von 104 432 DM ermittelt habe und ob die Gewinnerhöhung um 48 591 DM wirklich auf neuen Tatsachen beruhe. Die Wiedereinsetzung sei geboten, weil die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist nach § 126 Abs. 3 AO 1977 als nicht verschuldet gelte. Dem Änderungsbescheid habe die erforderliche schriftliche Begründung gefehlt.
Das FA wies den Einspruch als unzulässig zurück. Die Klage hatte keinen Erfolg.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verfahrensverstöße (§ 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) sowie die unrichtige Anwendung des § 121 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 sowie § 126 Abs. 3 AO 1977. Das Finanzgericht (FG) habe zu Unrecht nicht berücksichtigt, daß dem Steuerberater lediglich das reine Zahlenwerk der Gewinnberechnung 1974 bekanntgegeben worden sei, eine irgendwie geartete Begründung, auf welchen neuen Tatsachen dieses Zahlenwerk beruhe, sei nicht gegeben worden. Auch sei das Zahlenwerk nicht erläutert worden. Gegen § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 FGO verstoße es auch, daß das FG festgestellt habe, die Gewinnberechnung und die Begründung des FA sei bekannt gewesen. Allenfalls habe es sich um das Zahlenwerk und die Begründung des Sachbearbeiters gehandelt. Ein Sachbearbeiter des FA sei nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht die Finanzbehörde i. S. des § 121 Abs. 2 AO 1977. Weiter habe das FG gegen § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 FGO dadurch verstoßen, daß es den Vortrag der Kläger das FA habe den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weder näher aufgeklärt noch diesen Vortrag in den Gründen berücksichtigt habe. - In materiell-rechtlicher Hinsicht machen die Kläger geltend, mit dem Tatbestandsmerkmal "ohne weiteres erkennbar" (§ 121 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) sei es nicht vereinbar, daß sich ein Steuerpflichtiger die notwendige Erkenntnis über die Auffassung der Finanzbehörde erst unter Einschaltung seines steuerlichen Beraters besorgen müsse. Auch habe es an einer Anhörung nach § 91 Abs. 1 AO 1977 gefehlt; diese sei um so mehr erforderlich gewesen, als es sich um die Änderung des Bescheids für ein ungeprüftes Veranlagungsjahr gehandelt habe. Ein Kausalzusammenhang zwischen fehlender Begründung und Fristversäumnis sei gleichfalls gegeben.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Die geltend gemachten Verfahrensrügen greifen nicht durch. Dies bedarf gemäß Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 - BFH-EntlastG - (BGBl I 1975, 1861, BStBl I 1975, 932) keiner Begründung.
II. Das angefochtene Urteil des FG ist auch im übrigen nicht zu beanstanden.
1. Das FA hat den Änderungsbescheid zutreffend den Klägern bekanntgegeben und damit die Einspruchsfrist ordnungsgemäß in Lauf gesetzt.
Der ordnungsmäßigen Bekanntgabe an die Kläger steht nicht entgegen, daß diese durch ihren Steuerberater vertreten waren (§ 80 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Dieser Umstand führte nur dazu, daß das FA gehalten war, sich an den Bevollmächtigten zu wenden, wenn im Zuge der Besteuerung Rückfragen erforderlich wurden (§ 80 Abs. 3 AO 1977). Dies hat das FA im Streitfall auch getan. Ein FA handelt in der Regel nicht ermessenswidrig, wenn es den Steuerbescheid - auch wenn ein Steuerberater als Vertreter bestellt ist - dem Steuerpflichtigen als demjenigen bekanntgibt, für den der Bescheid bestimmt ist und der von ihm betroffen ist (§ 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 kann der Bescheid zwar (auch) gegenüber dem Bevollmächtigten bekanntgegeben werden. Eine Verpflichtung dazu besteht jedoch in der Regel dann nicht, wenn - wie hier - weder eine schriftliche Vollmacht des Bevollmächtigten zur Entgegennahme von Steuerbescheiden vorgelegen hat, noch die Steuerpflichtigen auf andere Weise zu erkennen gegeben haben, daß sie eine Bekanntgabe an ihren Berater wünschen.
2. Der Einspruch war verspätet (§ 348 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 355 Abs. 1 AO 1977). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO 1977) war nicht zu gewähren. Die Kläger waren nicht ohne Verschulden verhindert, die Einspruchsfrist einzuhalten.
a) Die Voraussetzungen des § 126 Abs. 3 AO 1977, nach denen in bestimmten Fällen die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet gilt, liegen nicht vor.
aa) Der Änderungsbescheid ist ausreichend begründet worden.
Ein schriftlicher Verwaltungsakt (dazu gehört der Steuerbescheid nach § 157 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) ist schriftlich zu begründen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist (§ 121 Abs. 1 AO 1977). Einer Begründung bedarf es nicht, soweit demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, die Auffassung der Finanzbehörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne schriftliche Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar ist (§ 121 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977). Schriftliche Steuerbescheide müssen die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag bezeichnen und angeben, wer die Steuer schuldet (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Durch Abgrenzung von diesen notwendigen Inhaltserfordernissen ist im Einzelfall zu ermitteln, welche (zusätzlichen) Angaben des FA im Steuerbescheid Teil der Begründung sind. Zur Begründung gehört bereits die Bekanntgabe der Besteuerungsgrundlagen, auf denen der Steuerbetrag beruht.
Im Streitfall bestand die Begründung des FA einmal in der Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen (des Gewinns aus Gewerbebetrieb, der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, der Sonderausgaben, der Kinderfreibeträge und der letztgültigen Steuerfestsetzung). Die Begründung enthielt außerdem noch den Hinweis, die Änderung sei durch das Bekanntwerden neuer Tatsachen ausgelöst. Schließlich war noch auf das Telefonat mit dem Steuerberater der Kläger Bezug genommen. Es kann offenbleiben, ob die schriftliche Begründung schon für sich allein alles enthalten hätte, was zum Verständnis des Bescheids erforderlich gewesen wäre. Denn jedenfalls war dem Steuerberater durch das telefonische Gespräch mit dem Sachbearbeiter des FA die Auffassung der Finanzbehörde über die Sach- und Rechtslage bekannt (§ 121 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977). Dem eigenen Vortrag der Kläger ist zu entnehmen, daß der Sachbearbeiter des FA bei dem Telefongespräch mit dem Berater der Kläger ausdrücklich gebeten hatte, das Zahlenwerk bekanntgeben zu dürfen, und daß dies erkennbar im Zusammenhang mit einem später zu erlassenden Bescheid gestanden hat. Damit war nicht nur die Auffassung des Sachbearbeiters der Rechtsbehelfsstelle des FA, sondern die Ansicht der Finanzbehörde selbst bekanntgegeben worden; denn die dem Berater mitgeteilte Rechtsauffassung lag dem unmittelbar darauf erteilten Bescheid zugrunde. Der zeichnungsberechtigte Beamte hatte sich diese Rechtsauffassung als diejenige der Finanzbehörde zu eigen gemacht. Der Umstand, daß der Berater die Auffassung der Behörde nicht gebilligt hat, steht der Tatsache nicht entgegen, daß sie ihm bekannt war.
bb) Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob das FA durch die telefonische Rücksprache mit dem Berater der Kläger seiner Pflicht zur Anhörung nach § 91 AO 1977 in ausreichendem Maße nachgekommen ist. Auch wenn man von einer Verletzung dieser Pflicht ausgeht, so ist jedenfalls nicht dadurch (§ 126 Abs. 3 AO 1977) die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt worden. Nach Darstellung der Kläger hat der Hinweis auf das Telefonat des FA mit dem Steuerberater bei ihnen den Anschein erweckt, der Berater habe die vom FA dem Bescheid zugrunde gelegten Besteuerungsgrundlagen gebilligt. Dieser Eindruck wäre, wenn man dem Vorbringen der Kläger folgt, unabhängig davon entstanden, in welcher Weise dem Berater zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden war.
b) Danach bedürfte es zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO 1977 der Feststellung, daß die Kläger ohne Verschulden verhindert waren, die Einspruchsfrist einzuhalten. Diese Feststellung kann nicht getroffen werden.
Nach Eingang des Bescheids, der auf das Telefonat mit dem Steuerberater Bezug genommen hatte, wäre es Sache der Kläger gewesen, mit ihrem Steuerberater in Verbindung zu treten und mit seiner Hilfe die Richtigkeit des Steuerbescheids zu überprüfen. Aus der Rechtsbehelfsbelehrung war den Klägern bekannt, daß nach Ablauf der Einspruchsfrist der Bescheid unanfechtbar werden würde. Es war daher ihr Risiko, wenn sie gleichwohl darauf vertraut haben, der Bescheid sei rechtmäßig. Dem steht auch nicht entgegen, daß das FA im Änderungsbescheid nicht besonders auf die Einwände hingewiesen hat, die der Bevollmächtigte der Kläger früher gegen die beabsichtigte Änderung der Steuerfestsetzung vorgebracht hat. Das Gesetz verlangt von der Finanzbehörde nur die Begründung der ihrem Bescheid zugrunde liegenden Rechtsauffassung, nicht den Hinweis auf Einwendungen, die dagegen vorgebracht werden könnten oder schon in Vorgesprächen vorgebracht worden sind. Wird im Bescheid auf Rücksprachen mit dem Bevollmächtigten verwiesen, so ist es Sache der vom Bescheid Betroffenen, dem Bevollmächtigten Gelegenheit zur Überprüfung zu geben.
Fundstellen
Haufe-Index 413416 |
BStBl II 1981, 3 |
BFHE 1981, 270 |