Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermittlung des pfändbaren Teils des Arbeitseinkommens. Angemessenheit der Kosten für die Unterkunft. Berücksichtigung von Kosten für Heizung und Unterkunft. Zwangsvollstreckung wegen rückständigen Unterhalts. Kindesunterhalt. Pfändungsfreibetrag. Wohnbedarf. Mietspiegel. Konkreter Bedarf
Leitsatz (amtlich)
a) Bei der Ermittlung des pfändbaren Teils des Arbeitseinkommens werden die Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem konkreten Bedarf berücksichtigt, soweit sie nicht den nach den Umständen des Einzelfalls und den örtlichen Gegebenheiten angemessenen Umfang übersteigen. Bei der gebotenen Prüfung ist vorrangig das ortsübliche Mietpreisniveau, wie es sich aus einem qualifizierten Mietspiegel (§ 558d BGB), einem Mietspiegel (§ 558c BGB) oder unmittelbar aus einer Mietdatenbank (§ 558e BGB) ableiten lässt, heranzuziehen (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30, 37).
b) Auf die Miethöchstgrenzen aus der Tabelle zu § 8 WoGG a.F. kann als Maßstab der Angemessenheit der Kosten für die Unterkunft erst dann zurückgegriffen werden, wenn ein konkret-individueller Maßstab durch lokale Erkenntnismöglichkeiten nicht gebildet werden kann.
Normenkette
ZPO § 850f Abs. 1 lit. a)
Verfahrensgang
LG Essen (Beschluss vom 12.09.2008; Aktenzeichen 16a T 95/08) |
AG Gelsenkirchen-Buer (Beschluss vom 27.06.2008; Aktenzeichen 29 M 2265/07) |
Tenor
Auf die Anschlussrechtsbeschwerde der Gläubigerinnen wird der Beschluss der 16. Zivilkammer des LG Essen vom 12.9.2008 (16a T 95/08) aufgehoben.
Die Rechtsbeschwerde und die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Beschluss des AG Gelsenkirchen-Buer vom 27.6.2008 werden zurückgewiesen.
Der Antrag des Schuldners auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen die Anschlussrechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Der Schuldner trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
[1] Die Gläubigerinnen betreiben gegen den Schuldner, ihren Vater, aus einem gerichtlichen Vergleich die Zwangsvollstreckung wegen laufenden und rückständigen Unterhalts. Am 30.10.2007 haben die Gläubigerinnen gegen den Schuldner einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirkt, mit dem Ansprüche des Schuldners aus seinem Arbeitsverhältnis bei der Drittschuldnerin gepfändet worden sind.
[2] Der Pfändungsfreibetrag ist in der Folge mehrfach erhöht worden, zuletzt mit Beschluss vom 10.1.2006 auf 1.081,13 EUR. Hierbei ist ein halber Nettomehrbetrag berücksichtigt worden, da der Schuldner inzwischen wieder verheiratet war.
[3] Unter dem 21.11.2007 ist beantragt worden, den Freibetrag auf 750 EUR zu reduzieren, da seit dem 1.1.2008 die Unterhaltsansprüche der Gläubigerinnen ggü. dem Unterhaltsanspruch der neuen Ehefrau des Schuldners absoluten Vorrang genießen würden.
[4] Der Schuldner hat am 1.2.2008 die Erhöhung des Pfändungsfreibetrages auf 1.232,49 EUR bis zum 31.3.2008 und auf 1.294,37 EUR ab dem 1.4.2008 beantragt und seinen Antrag mit gestiegenen Sozialhilfesätzen und Mietkosten begründet.
[5] Mit Beschluss vom 13.2.2008 hat das AG folgende Freibeträge festgesetzt: Bis zum 31.12.2007 auf 845,38 EUR zzgl. 1/3 Nettomehrbetrag, bis 31.3.2008 auf 871,57 EUR ohne Nettomehrbetrag und ab 1.4.2008 auf 933,45 EUR ohne Nettomehrbetrag. Bei der Berechnung des Sozialbedarfs hat das AG die Änderungen des Unterhaltsrechts berücksichtigt, § 850d Abs. 2 ZPO i.V.m. § 1609 BGB, und entschieden, dass die neue Ehefrau des Schuldners ab dem 1.1.2008 nicht mehr zu berücksichtigen sei. Die angegebenen Mietkosten hat es - abzgl. Stromkosten - jeweils in vollem Umfang berücksichtigt, also bis 31.12.2007 mit 353,13 EUR, ab 1.1.2008 mit 379,32 EUR und ab 1.4.2008 mit 441,20 EUR.
[6] Gegen diese Entscheidung haben die Gläubigerinnen am 20.2.2008 sofortige Beschwerde mit der Begründung eingelegt, der Wohnbedarf sei zu hoch angesetzt worden. Der Unterhaltsschuldner könne sich nur die Wohnkosten anrechnen lassen, die nach den Regelungen des SGB II für einen Alleinstehenden angemessen seien. Dies seien in der Stadt G. 216 EUR für eine Wohnung mit 45 m2 Wohnfläche, zzgl. 80 EUR Unterhaltskosten.
[7] Der Schuldner hat durch seinen Bevollmächtigten mehrfach erklären lassen, der Beschluss vom 13.2.2008 solle nicht angegriffen werden.
[8] Am 27.6.2008 hat das AG hinsichtlich der sofortigen Beschwerde der Gläubigerinnen vom 20.2.2008 eine Abhilfeentscheidung getroffen und den Wohnbedarf unter Bezugnahme auf den aktuellen Mietspiegel der Stadt G. auf einen Betrag von 296 EUR (Kaltmiete 216 EUR zzgl. Heiz- und Nebenkostenvorauszahlung von 80 EUR) für die Zeit ab dem 1.3.2008 herabgesetzt und den Pfändungsfreibetrag ab diesem Zeitpunkt auf 788,25 EUR bestimmt.
[9] Gegen diese ihm am 1.7.2008 zugestellte Entscheidung hat der Schuldner mit Schriftsatz vom selben Tage, eingegangen bei dem AG am 2.7.2008, sofortige Beschwerde eingelegt. Er hat seine Beschwerde einerseits mit der Herabsetzung des Wohnbedarfs begründet. Einen allgemeinen "Sozialwohnbedarf" gebe es für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II nicht. Also müsse er sich seinen Pfändungsfreibetrag nicht entsprechend schmälern lassen. Andererseits hat er sich gegen die Nichtgewährung eines zusätzlichen Freibetrages für seine neue Ehefrau gewandt. Zumindest die durch den Wechsel in Steuerklasse 3 eingetretene Steuerentlastung i.H.v. 218,65 EUR monatlich müsse abgezogen werden.
[10] Die Gläubigerinnen sind der sofortigen Beschwerde des Schuldners entgegengetreten. Ihre sofortige Beschwerde vom 20.2.2008 gegen den Beschluss vom 13.2.2008 haben sie mit Schriftsatz vom 3.7.2008 zurückgenommen.
[11] Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners hat das Beschwerdegericht den monatlichen, dem Schuldner mindestens pfandfrei zu belassenden Betrag für die Zeit ab dem 1.3.2008 unter Berücksichtigung eines monatlichen Wohnbedarfs i.H.v. 352,50 EUR auf 844,75 EUR festgesetzt. Es hat gem. § 574 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Rechtsbeschwerde zur Klärung der Frage der Berechnung des Wohnbedarfs zugelassen.
[12] Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner die volle Berücksichtigung der tatsächlichen Wohnkosten sowie die Gewähr eines zusätzlichen Freibetrages für seine Ehefrau weiter. Die Gläubigerinnen verfolgen mit ihrer Anschlussrechtsbeschwerde ihre in der Beschwerdeinstanz gestellten Anträge weiter.
II.
[13] 1. Das Beschwerdegericht meint, soweit der Schuldner im Beschwerdeverfahren thematisiert habe, nun doch die Anrechnung von Steuerersparnissen infolge seiner Neuverheiratung auf den Freibetrag zu wünschen, sei die Sache nicht zu entscheiden. Der Schuldner habe zunächst mehrfach zum Ausdruck gebracht, die Entscheidung des AG zu billigen, und insoweit einen Verzicht auf sein Beschwerderecht erklärt. Überdies sei am 1.7.2008 die Beschwerdefrist gegen den Beschluss des AG vom 13.2.2008 bereits abgelaufen gewesen.
[14] 2. Das Beschwerdegericht führt weiter aus, dass der monatliche Wohnbedarf des Schuldners auf 352,50 EUR festzusetzen sei, denn der Selbstbehalt des Unterhaltsschuldners richte sich nach sozialhilferechtlichen Kriterien. Nach § 29 SGB XII würden die tatsächlich anfallenden Kosten der Unterkunft insoweit erstattet, als die fraglichen Aufwendungen der Höhe nach nicht unangemessen seien und dem Sozialhilfeempfänger nicht eine Verringerung des Kostenaufwandes zuzumuten sei.
[15] In der Rechtsprechung würden bei der Ermittlung des angemessenen Wohnbedarfs teilweise die Bestimmungen des Wohngeldgesetzes herangezogen (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 2000, 220, 222; OLG Köln Rpfleger 1999, 548, 549). Eine jüngere Entscheidung des BSG spreche eher dagegen (BSG, FEVS 60, 145, 149). Der BGH habe diese Frage ausdrücklich offen gelassen (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30, 37).
[16] Aus der Sicht des Beschwerdegerichts erscheine die Heranziehung der Sätze des § 8 WoGG (in der Fassung vom 7.7.2005; im Folgenden: a.F.) wegen der Sachnähe zum Sozialhilferecht angemessen. Im Rahmen des formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahrens seien sie auch transparent und gut praktikabel. Besser geeignete Bewertungskriterien seien nicht ersichtlich. Die von den Gläubigerinnen vorgebrachten Höchstgrenzen für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II gebe es in dieser Allgemeinheit nicht. Der Aufwand für die Ermittlung eines nach Wohnungsgrößen differenzierten Mietniveaus des unteren Segments im räumlichen Vergleichsbereich erscheine für das Vollstreckungsverfahren unverhältnismäßig.
III.
[17] Die Rechtsbeschwerde wendet sich zunächst gegen die unterbliebene Anrechnung von Steuerersparnissen infolge der Neuverheiratung des Schuldners auf den Freibetrag. Insoweit ist die Rechtsbeschwerde unzulässig, da die Rechtsbeschwerde beschränkt auf die Frage der Ermittlung der Wohnkosten zugelassen wurde und diese Beschränkung wirksam ist.
[18] Das Beschwerdegericht hat im Tenor die Rechtsbeschwerde ohne Einschränkung zugelassen. In den Gründen hat es dazu Folgendes ausgeführt: "Die Kammer lässt die Rechtsbeschwerde gem. § 574 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 ZPO zu. Die Frage, nach welchen Kriterien der Wohnbedarf des Unterhaltsschuldners zu berechnen ist, ist höchstrichterlich nicht geklärt. Da diese Frage eine Vielzahl von Vollstreckungsfällen betrifft, ist eine einheitliche Fortbildung des Rechts dringend geboten."
[19] Damit hat das Beschwerdegericht die Zulassung der Rechtsbeschwerde auf die Frage der Berechnung des Wohnbedarfs des Unterhaltsschuldners beschränkt. Die Beschränkung der Zulassung in den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung ist möglich (BGH, Urt. v. 13.1.2005 - VII ZR 28/04, BauR 2005, 749 = NZBau 2005, 280; v. 17.6.2004 - VII ZR 226/03, BauR 2004, 1650 = ZfBR 2004, 775). Sie ist auch wirksam, da die Berechnung des Wohnbedarfs des Unterhaltsschuldners ein Teil der angefochtenen Entscheidung ist, auf den auch der Rechtsbeschwerdeführer selbst sein Rechtsmittel wirksam beschränken könnte (vgl. BGH, a.a.O.).
IV.
[20] Im Übrigen ist die gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2, 575 ZPO statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde des Schuldners unbegründet.
[21] Auf die gem. § 574 Abs. 4 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Anschlussrechtsbeschwerde der Gläubigerinnen wird der Beschluss des LG vom 12.9.2008 aufgehoben und die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Beschluss des AG vom 27.6.2008 zurückgewiesen.
[22] 1. Das Beschwerdegericht hat zu Unrecht den tatsächlichen monatlichen Wohnbedarf des Schuldners auf 352,50 EUR festgesetzt. Zutreffend ist dagegen die Entscheidung des AG vom 27.6.2008, mit der der Wohnbedarf des Schuldners unter Bezugnahme auf den aktuellen Mietspiegel der Stadt G. auf einen Betrag von 296 EUR (Kaltmiete 216 EUR zzgl. Heiz- und Nebenkostenvorauszahlung von 80 EUR) für die Zeit ab dem 1.3.2008 festgesetzt und dementsprechend der Pfändungsfreibetrag des Schuldners ab diesem Zeitpunkt auf 788,25 EUR bestimmt worden ist, § 850 f Abs. 1 ZPO.
[23] 2. Der erweiterte pfändungsfreie Teil gem. § 850 f Abs. 1 lit. a) ZPO entspricht dem Betrag, der nach den Vorschriften des SGB XII an den Schuldner ergänzend als Sozialhilfe zum Lebensunterhalt zu leisten wäre (Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 22. Aufl. 2008, § 850 f Rz. 3). Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden nach konkretem Bedarf ersetzt, soweit sie nicht den angemessenen Umfang übersteigen (Brehm in Stein/Jonas, a.a.O.). Die Angemessenheit der Aufwendungen ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten konkret zu ermitteln (BSG, FEVS 60, 145, 149). Dabei ist vorrangig das ortsübliche Mietpreisniveau, wie es sich aus einem qualifizierten Mietspiegel (§ 558d BGB), einem Mietspiegel (§ 558c BGB) oder unmittelbar aus einer Mietdatenbank (§ 558e BGB) ableiten lässt, heranzuziehen (vgl. BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30, 37; BSG, a.a.O.). Sie geben in der Regel einen zuverlässigen Aufschluss über die aktuelle örtliche Wohnungsmarktlage (BSG, a.a.O.). Dagegen erlauben die Werte der Tabelle zu § 8 WoGG a.F. allenfalls eine Annäherung an die Angemessenheit der Aufwendungen (Berlit in LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2008, § 29 Rz. 39). Ein Rückgriff auf die Tabellenwerte in § 8 WoGG a.F. ist daher erst dann zulässig, wenn alle anderen Erkenntnismöglichkeiten und Mittel zur Ermittlung der Angemessenheit der Kosten des Wohnraums ausgeschöpft sind (vgl. BSG, FEVS 58, 271, 274).
[24] Die teilweise in der Rechtsprechung vorgenommene Ermittlung des angemessenen Wohnbedarfs unmittelbar anhand der Bestimmungen des Wohngeldgesetzes (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 2000, 220, 222; OLG Köln Rpfleger 1999, 548, 549) ist damit nicht zulässig. Sie kann nicht mit der Erwägung begründet werden, sie sei einfacher zu handhaben und benachteilige den Schuldner nicht. Die Erwägung lässt unberücksichtigt, dass die Ermittlung des angemessenen Wohnbedarfs anhand von Mietspiegel und Mietdatenbanken ähnlich einfach ist wie die Ermittlung nach § 8 WoGG a.F. und eine ungenaue Ermittlung den Gläubiger benachteiligen kann.
[25] 3. Das AG hat in seinem Beschluss vom 27.6.2008 unter Bezugnahme auf den aktuellen Mietspiegel der Stadt G. ausgeführt, dass sich bei einem Mietpreis von 4,80 EUR pro m2 bezogen auf eine Wohnung von 45 m2 ein Mietpreis i.H.v. 216 EUR (Kaltmiete) ergeben würde. Das wird von den Beteiligten nicht angegriffen und lässt auch Rechtsfehler nicht erkennen.
[26] 4. Anhaltspunkte dafür, dass der aktuelle Mietspiegel für die Stadt G. zur Ermittlung des monatlichen Wohnbedarfs ausnahmsweise nicht geeignet ist, sind weder von dem Schuldner vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Beschluss des AG vom 27.6.2008 war daher wieder herzustellen.
V.
[27] Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 91 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 2208587 |
BGHR 2009, 1225 |
EBE/BGH 2009, 291 |
NJW-RR 2009, 1459 |
JurBüro 2009, 607 |
NZM 2009, 708 |
ZMR 2010, 20 |
KKZ 2010, 242 |
NZI 2009, 655 |
Rpfleger 2009, 687 |
WuM 2009, 540 |
FoVo 2009, 219 |
VE 2009, 173 |
ZFE 2010, 162 |