Entscheidungsstichwort (Thema)
Zwangsvollstreckung wegen deliktischer Forderung. Notwendiger Schuldnerunterhalt bei Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt
Leitsatz (amtlich)
Wird die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung betrieben, sind dem Schuldner für seinen notwendigen Unterhalt jedenfalls die Regelsätze nach § 28 SGB XII zu belassen. Eine Pfändung kleiner Teilbeträge hieraus kommt nicht in Betracht.
Normenkette
ZPO § 850d Abs. 1 S. 2, § 850 f Abs. 2
Verfahrensgang
LG Dortmund (Beschluss vom 16.10.2009; Aktenzeichen 9 T 546/09) |
AG Castrop-Rauxel (Entscheidung vom 03.06.2009; Aktenzeichen 2 M 554/09) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des LG Dortmund vom 16.10.2009 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Gegenstandswert: bis 600 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Gläubigerin betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung. Die titulierte Forderung beruht auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung des Schuldners.
Rz. 2
Der Schuldner bezieht die Regelleistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, seit dem 1.7.2009i.H.v. monatlich 359 EUR, sowie monatliche Leistungen für Unterkunft und Heizung i.H.v. 345,82 EUR.
Rz. 3
Die Gläubigerin hat beantragt, einen monatlichen Betrag von 30 EUR zu pfänden und ihr zur Einziehung zu überweisen. Das AG - Vollstreckungsgericht - hat diesen Antrag zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Gläubigerin den Erlass des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses weiter.
II.
Rz. 4
Die gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht ist der Ansicht, eine Herabsetzung des Pfändungsfreibetrags nach § 850 f Abs. 2 ZPO unter den Regelsatz sei nicht möglich. Dem Schuldner sei auch nach § 850 f Abs. 2 ZPO so viel zu belassen, wie er für seinen notwendigen Unterhalt benötige. Dieser entspreche dem notwendigen Lebensbedarf im Sinne des 3. und 11. Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Er werde durch den Regelsatz nach § 28 SGB XII und die Unterkunftskosten abgedeckt. Eine Herabsetzung des Pfändungsfreibetrags würde zu einer Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums führen und gegen das Sozialstaatsprinzip verstoßen.
Rz. 6
2. Das hält der rechtlichen Nachprüfung stand. Der dem Schuldner nach § 850 f Abs. 2 ZPO zur Sicherung seines notwendigen Lebensunterhalts zu belassende Betrag umfasst den ungeschmälerten Regelsatz nach § 28 SGB XII. Eine Pfändung von kleinen Teilbeträgen hieraus kommt nicht in Betracht.
Rz. 7
a) Die Ansprüche auf laufende Geldleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch können nach § 54 Abs. 4 SGB I wie Arbeitseinkommen gepfändet werden.
Rz. 8
b) Betreibt der Gläubiger die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung, kann er nach § 850 f Abs. 2 Satz 1 ZPO in erweitertem Maße auf das Arbeitseinkommen des Schuldners zugreifen. Diesem ist jedoch soviel zu belassen, wie er für seinen notwendigen Unterhalt bedarf, § 850 f Abs. 2 Satz 2 ZPO. Dieser Begriff des notwendigen Unterhalts entspricht dem des notwendigen Unterhalts in § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO (Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 850 f Rz. 8, 10; Brehm in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 850 f Rz. 17; MünchKomm/ZPO/Smid, 3. Aufl., § 850 f Rz. 25; Musielak/Becker, ZPO, 7. Aufl., § 850 f Rz. 12; Schuschke/Walker/Kessal-Wulf, ZPO, 4. Aufl., § 850 f Rz. 14). Der Gesetzgeber wollte bei der Einfügung des Abs. 2 in § 850 f ZPO durch das Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung eine ähnliche Vorzugsstellung verschaffen, wie sie in § 850d ZPO für Unterhaltsansprüche bestimmt ist (Regierungsentwurf des Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen vom 31.5.1958, BT-Drucks. 3/415, 11).
Rz. 9
Für den Begriff des notwendigen Unterhalts in § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO hat der BGH bereits entschieden, dass dieser grundsätzlich dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch entspricht (BGH, Beschl. v. 12.12.2007 - VII ZB 38/07, NJW-RR 2008, 733 Rz. 13; Urt. v. 23.2.2005 - XII ZR 114/03, BGHZ 162, 234 Rz. 26). Dies gilt auch für den notwendigen Unterhalt i.S.v. § 850 f Abs. 2 ZPO, wobei offen bleiben kann, inwieweit im Einzelfall auch auf die Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch zurückgegriffen werden kann. Der ausgehend von §§ 28, 40 SGB XII i.V.m. der Verordnung zur Durchführung des § 28 SGB XII durch die Länder festgesetzte Regelsatz für Empfänger von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch entspricht dem des § 20 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1.7.2009 und beträgt seit dem 1.7.2009 359 EUR.
Rz. 10
c) Dieser dem Schuldner zu belassende Betrag kann entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht mehr unterschritten werden.
Rz. 11
aa) Allerdings wird in der Rechtsprechung vertreten, dass die Sätze der Sozialhilfe einen Betrag für kleinere Anschaffungen enthielten und dieser Betrag ohne Gefährdung des notwendigen Unterhaltes gepfändet werden könne. In den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sei auch ein pfändbarer Anteil enthalten, der für Ansparungen für notwendige Anschaffungen vorgesehen sei. (AG Wuppertal, JurBüro 2007, 495; AG Karlsruhe, JurBüro 2007, 495 ohne weitergehende Begründung; AG Dresden, JurBüro 2009, 46, ohne weitergehende Begründung).
Rz. 12
bb) Diese Ansicht ist nicht haltbar.
Rz. 13
Bestandteil des notwendigen Unterhalts i.S.d. § 850 f Abs. 2 ZPO bzw. § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist ein Betrag in Höhe des Regelsatzes nach dem Zwölften bzw. Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (LG Hannover, JurBüro 2007, 100; Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 850d Rz. 7; Schuschke/Walker/Kessal-Wulf, ZPO, 4. Aufl., § 850d Rz. 7; Smid in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 850d Rz. 25; Brehm in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 850d Rz. 21; Prütting/Gehrlein/Ahrens, 2. Aufl., § 850d Rz. 21; Musielak/Becker, ZPO, 7. Aufl., § 850d Rz. 5 f.; Stöber, Forderungspfändung, 15. Aufl., Rz. 1094, 1176b, 1176d; a.A. noch Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 850d Rz. 7). Durch diese Vorschriften soll das Existenzminimum gesichert werden. Dieses ist im Zwangsvollstreckungsrecht grundsätzlich ebenso zu bestimmen wie im Sozialrecht. Die Regelleistung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die der Höhe und der Herleitung nach dem Regelbedarf im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch entspricht, ist Bestandteil des untersten Netzes der sozialen Sicherung (Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 1.10.2003, BT-Drucks. 15/1636, 7 unter Verweis auf BT-Drucks. 15/1514, 52), in welches im Wege der Zwangsvollstreckung nicht eingegriffen werden kann.
Rz. 14
(1) Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dieses umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (BVerfG NJW 2010, 505 Rz. 133 ff.).
Rz. 15
Dieser Begriff des Existenzminimums muss grundsätzlich auch im Vollstreckungsverfahren gelten. Unzutreffend ist die Auffassung der Beschwerdeführerin, der Schuldner verdiene den Schutz nicht, der ihm im Sozialstaat gewährt werde, weil er eine unerlaubte Handlung begangen habe. Diesem Umstand wird gerade durch die Regelung des § 850 f ZPO Rechnung getragen.
Rz. 16
(2) Zu Unrecht meint die Rechtsbeschwerde, die Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch unterschieden sich, da erstere auch zur Wahrung des sozialen Status gezahlt würden. Die Regelleistung des § 20 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 SGB II entspricht dem nach § 28 SGB XII durch die Länder festgesetztem Regelbedarf. Im Gesetzgebungsverfahren wurde hierzu ausgeführt: "Die Regelleistung bildet also im Rahmen des Arbeitslosengeldes II das "soziokulturelle" Existenzminimum der insoweit als Referenzsystem für alle bedarfsorientierten und bedürftigkeitsabhängigen staatlichen Fürsorgeleistungen fungierenden Sozialhilfe ab ... Die Vorschriften zur Regelleistung enthalten keine Regelungen zu ihrer Bemessung, da hierfür die Regelungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch einschließlich der Regelsatzverordnung einschlägig sind..." (BT-Drucks. 15/1516, 56; vgl. auch BVerfG, a.a.O., Rz. 160).
Rz. 17
(3) Fehl geht der Hinweis des AG Wuppertal (JurBüro 2007, 495), im Regelsatz sei ein Ansparanteil enthalten, der pfändbar sei. Zutreffend daran ist, dass bei der Umstellung vom Bundessozialhilfegesetz auf die Bücher Zwei und Zwölf Sozialgesetzbuch die Systematik der Bedarfe neu geordnet worden ist. Das Bundessozialhilfegesetz ging von einer systematischen Unterteilung von laufenden Leistungen und einmaligen Leistungen für Bekleidung, Wäsche, Schuhe, Hausrat oder besondere Anlässe aus. Diese Bedarfe sind in die Regelsätze auf den Monat umgerechnet eingestellt worden, so dass der Hilfebedürftige für einmalige Bedarfe Rücklagen zu bilden hat (vgl. Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB II und SGB XII, § 28 SGB XII Rz. 3; BT-Drucks. 15/1514, 59). Dieser Ansparanteil darf deshalb dem Pfändungszugriff nicht ausgesetzt sein. Zudem entspricht dies der Rechtslage im Zwangsvollstreckungsverfahren vor der Umstellung. Für die einmaligen Bedarfe des § 21 Abs. 1a BSHG wurden monatliche Pauschalen geschätzt (vgl. BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30 Rz. 18).
Rz. 18
(4) Ebenso unzutreffend ist die Annahme, ein bestimmter Betrag im Regelsatz sei für eine bestimmte Ausgabe reserviert. Richtig ist, dass der Regelsatz anhand erfasster Durchschnittswerte des untersten Quintils der nach dem Haushaltsnettoeinkommen geschichteten Haushalte bestimmt worden ist. Ausgehend von diesen Durchschnittsausgaben hat der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum genutzt und eine Wertung vorgenommen, welche dieser Ausgaben regelsatzrelevant sind. Diesbezüglich hat das BVerfG festgestellt, dass das vom Gesetzgeber gewählte Statistikmodell zur Bestimmung des Existenzminimums im Grundsatz geeignet sei, die zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen realitätsgerecht zu bemessen (BVerfG NJW 2010, 505, Rz. 159 ff.).
Rz. 19
Hieraus ist nicht der Schluss zu ziehen, die Empfänger von Arbeitslosengeld II hätten den Regelsatz entsprechend der ermittelten Durchschnittswerte zu verwenden. Vielmehr sind sie frei, den als Teil des Existenzminimums festgestellten Betrag zur Deckung ihrer Bedarfe eigenverantwortlich zu verwenden (BT-Drucks. 15/1516, 46, 55 f.). Es ist deshalb verfehlt, die durch den Gesetzgeber getroffenen Wertentscheidungen im Einzelnen in Frage zu stellen und zu überprüfen, ob manche vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen den eigenen Wertungen entsprechen.
Rz. 20
(5) Das Ergebnis deckt sich zudem mit der gesetzgeberischen Wertung, die in § 17 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zum Ausdruck kommt. Nach dieser Norm ist der Anspruch auf Sozialhilfe nicht pfändbar. Dies beruht darauf, dass die Sozialhilfeleistungen dazu dienen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern (Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB II und XII, § 17 SGB XII Rz. 16). Im Gegensatz dazu ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld II grundsätzlich pfändbar, § 54 Abs. 4 SGB I. Soweit aber die Geldleistung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - wie hier - der Höhe und der Herleitung nach der Geldleistung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch entspricht, ist diese Wertung des Gesetzgebers bei der Frage der Bestimmung des notwendigen Unterhalts nach § 850 f Abs. 2 ZPO (bzw. § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO) zu berücksichtigen.
III.
Rz. 21
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen