Entscheidungsstichwort (Thema)

Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Gesetzliche Krankenversicherung. Übernahmefähigkeit von Krankentransportkosten nach Skiunfall im europäischen Ausland. Inländerdiskriminierung. Ambulante Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat der EU

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Hat das Revisionsgericht über eine aufgeworfene Rechtsfrage bereits entschieden, kommt eine erneute Zulassung der Revision wegen dieser Frage nur in Betracht, wenn der bisherigen Beurteilung in Rechtsprechung oder Literatur in nicht nur geringem Umfang und mit beachtlichen Gründen widersprochen wird oder wenn sich völlig neue Gesichtspunkte ergeben, die früher nicht erwogen wurden und geeignet sind, eine andere Beurteilung der Rechtsfrage nahe zu legen. Dies muss in der Beschwerdebegründung nachvollziehbar dargelegt werden, sodass sich dem Gericht die Notwendigkeit einer erneuten Revisionsentscheidung erschließen kann.

2. Krankentransportkosten sind von der Krankenkasse nur unter den in § 60 SGB V genannten Voraussetzungen und insbesondere nur dann zu übernehmen, wenn der Transport im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse medizinisch notwendig war. Die Kosten des Rücktransports nach einem Skiunfall in Österreich nach Deutschland sind daher nur dann ganz oder teilweise erstattungsfähig, wenn eine adäquate Behandlung der Unfallverletzungen an Ort und Stelle in Österreich nicht möglich war und nicht zumindest eine Behandlung durch den nächsterreichbaren Arzt bzw. eines der nächsterreichbaren Krankenhäuser in Deutschland ausgereicht hätte.

3. Ob sich ein Versicherter außerhalb der durch das SGB V und die EWG-Verordnung Nr. 1408/71 gezogenen Grenzen zu Lasten der Krankenkasse ambulant in einem anderen Mitgliedstaat der Union behandeln lassen kann, ist auch nach der Rechtsprechung des EuGH derzeit weiterhin offen. Kommt eine Vorlage an den EuGH aber mangels Zulässigkeit im konkreten Fall nicht in Betracht, muss für diesen Fall von der Vereinbarkeit der die Leistungsbeschaffung reglementierenden innerstaatlichen Vorschriften (hier: § 2 Abs. 2, § 13 Abs. 1, § 39 Abs. 1 S. 2, § 76 Abs. 1 SGB V) mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht ausgegangen werden.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1; SGB V § 60 Abs. 4, § 16 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2, § 13 Abs. 1, § 39 Abs. 1 S. 2, § 76 Abs. 1; EWGV 1408/71

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.10.1999)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1999 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin ließ sich nach einem Skiunfall in den österreichischen Alpen, bei dem sie Frakturen des 11. Brustwirbelkörpers und des Steißbeins erlitten hatte, mit einem Krankenwagen nach F. … i.Br. transportieren und in der dortigen Universitätsklinik von dem nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt Prof. Dr. K. … ambulant behandeln. Der Streit geht darum, ob die beklagte Krankenkasse die Kosten des Rücktransports und der Behandlung durch Prof. Dr. K. … einschließlich von diesem verordneter Medikamente im Gesamtbetrag von 4.836,59 DM (= 2.472,91 EUR) zu erstatten hat. Das Landessozialgericht (LSG) hat dies verneint und die Berufung gegen das insoweit klageabweisende Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen.

Mit der Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Klärungsbedürftig sei, ob § 60 Abs 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) die Erstattung der Kosten eines Rücktransports aus einem Land der Europäischen Union ausschließt. Richtigerweise seien andere Mitgliedsländer der Union kein „Ausland” im Sinne dieser Vorschrift. Jedenfalls sei es mit der Freiheit des Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft nicht vereinbar, wenn bei der Erstattung von Krankentransportkosten zwischen Transporten innerhalb eines Mitgliedstaates und solchen zwischen Mitgliedstaaten differenziert werde. Hilfsweise sei zu entscheiden, ob nicht der Rücktransport aus dem Ausland mit dem Erreichen deutschen Staatsgebietes ende und dann zumindest der Weitertransport innerhalb Deutschlands von der Krankenkasse zu bezahlen sei. Was die Behandlung durch Prof. Dr. K. … angehe, müsse Klarheit geschaffen werden, ob es mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sei, dass gesetzlich Krankenversicherte sich zwar nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von jedem Arzt eines Mitgliedstaates der Europäischen Union behandeln lassen könnten, ihnen die Inanspruchnahme eines in Deutschland praktizierenden Privatarztes aber nach innerstaatlichem Recht verwehrt sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist teils unzulässig, teils unbegründet und deshalb insgesamt zurückzuweisen.

Unzulässig ist das Rechtsmittel, soweit es die Erstattung von Krankentransportkosten betrifft. Diesbezüglich ist weder die Klärungsbedürftigkeit noch die Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügenden Weise dargetan, sodass eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG schon deswegen nicht in Betracht kommt.

Zu der Frage, ob es nach europäischem Gemeinschaftsrecht geboten ist, dass die Krankenversicherung abweichend von § 60 Abs 4 SGB V für den Rücktransport eines Versicherten aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nach Deutschland aufkommt, hat sich der Senat bereits in dem Urteil vom 23. Februar 1999 - B 1 KR 1/98 R - ausführlich geäußert ( BSGE 83, 285, 291 f = SozR 3-2500 § 60 Nr 3 S 18). In der Beschwerdebegründung wird diese Entscheidung zwar erwähnt; die Klägerin setzt sich mit ihr aber nicht auseinander, sondern beschränkt sich darauf, ihren abweichenden Standpunkt darzulegen und sich dazu auf die Gewährleistung der Grundfreiheiten im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGVtr) zu berufen. Hat das Revisionsgericht über die aufgeworfene Rechtsfrage bereits entschieden, kommt eine erneute Zulassung der Revision wegen dieser Frage nur in Betracht, wenn der bisherigen Beurteilung in Rechtsprechung oder Literatur in nicht nur geringem Umfang und mit beachtlichen Gründen widersprochen wird oder wenn sich völlig neue Gesichtspunkte ergeben, die früher nicht erwogen wurden und geeignet sind, eine andere Beurteilung der Rechtsfrage nahe zu legen. Dies muss in der Beschwerdebegründung nachvollziehbar dargelegt werden, sodass sich dem Gericht die Notwendigkeit einer erneuten Revisionsentscheidung erschließen kann. Lässt die Beschwerde die vorhandene Judikatur völlig außer Betracht, ist den gesetzlichen Begründungsanforderungen regelmäßig nicht genügt.

Ob die Kosten des Rücktransports aus Österreich nach Deutschland ganz oder teilweise erstattungsfähig sind, könnte in dem angestrebten Revisionsverfahren im Übrigen nur geklärt werden, wenn es für die Entscheidung auf die von der Klägerin formulierten Rechtsfragen ankäme. Zur Entscheidungserheblichkeit und damit Klärungsfähigkeit dieser Fragen äußert sich die Beschwerdebegründung jedoch nicht, obwohl dazu Anlass bestanden hätte. Krankentransportkosten sind von der Krankenkasse nur unter den in § 60 SGB V genannten Voraussetzungen und insbesondere nur dann zu übernehmen, wenn der Transport im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse medizinisch notwendig war. Nachdem das LSG dazu nichts festgestellt hat, hätte aufgezeigt werden müssen, dass und warum eine adäquate Behandlung der Unfallverletzungen an Ort und Stelle in Österreich nicht möglich war und warum nicht zumindest eine Behandlung durch den nächsterreichbaren Arzt ( § 76 Abs 2 SGB V ) bzw eines der nächsterreichbaren Krankenhäuser ( § 73 Abs 4 Satz 3 SGB V ) in Deutschland ausgereicht hätte. Da die Beschwerde dazu nichts vorträgt, kann nicht beurteilt werden, ob die klageabweisenden Urteile der Vorinstanzen in einem etwaigen Revisionsverfahren nicht schon deshalb bestätigt werden müssten, weil der Transport nach F. objektiv nicht erforderlich war.

Soweit es der Klägerin darum geht, ob in der Beschränkung der Versicherten auf Vertragsärzte und zugelassene Krankenhäuser und in dem Ausschluss privatärztlicher Behandlungen von der Kostenerstattung eine verfassungs- bzw europarechtswidrige "Inländerdiskriminierung" zu sehen ist, ist die auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützte Beschwerde zulässig, aber unbegründet. Denn es fehlt derzeit und bis auf weiteres an der Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage.

Die Beschwerde bezieht sich auf die Urteile des EuGH vom 28. April 1998 in den Rechtssachen C-158/96 , Kohll (EuGHE 1998, I-1931 = SozR 3-6030 Art 59 Nr 5) und C-120/95 , Dekker (EuGHE 1998, I-1831 = SozR 3-6030 Art 30 Nr 1). Sie entnimmt ihnen, dass Versicherte unter Berufung auf die in Art 59 EGVtr gewährleistete Dienstleistungsfreiheit jederzeit Ärzte in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu Lasten ihrer Krankenkasse aufsuchen können. Mit Blick auf das Gleichbehandlungsgebot könne dann für die Inanspruchnahme eines nicht zugelassenen Arztes im Inland nichts anderes gelten. Diese Argumentation unterstellt dem EuGH eine Rechtsaussage, die in den zitierten Entscheidungen nicht enthalten ist. Beide Urteile betreffen Ansprüche von Versicherten der luxemburgischen Krankenversicherung, die ihren Mitgliedern Versicherungsschutz auf Kostenerstattungsbasis gewährt. Ob die darin enthaltenen Aussagen auf das deutsche Sachleistungssystem übertragbar sind, ist ungeklärt und im krankenversicherungsrechtlichen Schrifttum umstritten. Diesbezüglich hat auch das zwischenzeitlich ergangene Urteil des EuGH vom 12. Juli 2001 in der Rechtssache C-157/99 , Smits/Peerbooms (EuGHE 2001, I-5473 = SozR 3-6030 Art 59 Nr 6) keine Klarheit gebracht. Diese Entscheidung befasst sich zwar - anders als die früheren - mit der Zulässigkeit einer grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Leistungen in einem der deutschen Krankenversicherung vergleichbaren Sachleistungssystem in den Niederlanden. Der EuGH beschränkt seine Aussagen aber ausdrücklich auf den Bereich der stationären Krankenhausversorgung. Ob sich ein Versicherter außerhalb der durch das SGB V und die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 gezogenen Grenzen zu Lasten der Krankenkasse ambulant in einem anderen Mitgliedstaat der Union behandeln lassen kann, ist danach weiterhin offen. Nur wenn das der Fall ist, stellt sich aber das von der Beschwerde angesprochene Problem der Gleichbehandlung.

Die offene Vorfrage kann im gegenwärtigen Prozess nicht geklärt werden. Eine Aussetzung des Verfahrens zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH kommt nicht in Betracht. Da die Behandlung durch Prof. Dr. K. keinen Auslandsbezug aufweist, wäre eine solche Vorlage unzulässig (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl EuGHE 1997, I-195 = SozR 3-6030 Art 48 Nr 12 mwN). Gegenwärtig und mit Blick auf das angestrebte Revisionsverfahren muss deshalb von der Vereinbarkeit der die Leistungsbeschaffung reglementierenden innerstaatlichen Vorschriften ( § 2 Abs 2, § 13 Abs 1, § 39 Abs 1 Satz 2, § 76 Abs 1 SGB V ua) mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht ausgegangen werden. Damit kommt es auf die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage für die Entscheidung nicht an, und es kann offen bleiben, ob sich im Fall einer anderslautenden Judikatur des EuGH auch der Versicherte - und nicht etwa nur der betroffene Leistungserbringer - auf die dann bestehende Ungleichbehandlung berufen könnte.

Die Beschwerde konnte danach keinen Erfolg haben.

Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG .

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176650

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