Entscheidungsstichwort (Thema)
Nicht rechtzeitige Weiterleitung der Rechtsmittelschrift
Leitsatz (redaktionell)
Einem Rechtsmittelkläger kann - jedenfalls wenn er eine natürliche Person ist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach SGG § 67 Abs 1 auch dann gewährt werden, wenn seine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle (zB anderes Gericht, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts) übersandt worden und die Rechtsmittelschrift infolge fehlsamen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Folgen der Fehlleitung durch ein von der angegangenen Stelle zu erwartendes sachgerechtes Handeln hätte ausgeglichen werden können und die Einhaltung der Rechtsmittelfrist durch eine Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang - ohne außergewöhnliche Maßnahmen - gewährleistet gewesen wäre.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1921 geborene und in Polen wohnhafte Kläger beantragte 1970 Versorgung. Das Versorgungsamt R lehnte den Antrag durch Bescheid vom 31. August 1971 ab; Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Bescheid des Landesversorgungsamtes B vom 6. April 1972; Urteil des Sozialgerichts - SG - Stuttgart vom 2. Mai 1973).
Der Kläger hat gegen das ihm am 18. Juli 1973 zugestellte Urteil des SG mit einem am 22. Oktober 1973 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingegangenen Schreiben vom 26. September 1973, das am 15. Oktober 1973 beim SG Stuttgart eingegangen ist, Berufung eingelegt. Hierzu hat sich der Vorsitzende der 15. Kammer des SG Stuttgart dienstlich dahin geäußert, daß die Berufung des Klägers am 15. Oktober 1973 im Prozeßregister und in der Kartei des SG vermerkt worden sei, daß er am 16. Oktober 1973 die Absendung an das LSG mit den Akten der 1. Instanz verfügt habe, daß die Verfügung am 18. Oktober 1973 geschrieben und am 19. Oktober 1973 abgesandt wurde. Dieser Ablauf müsse angesichts der beim Gericht herrschenden angespannten Schreibkräftesituation als besonders beschleunigt angesehen werden. Durch Urteil vom 21. März 1975 hat das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Es hat die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verneint, weil der Kläger nicht damit habe rechnen dürfen, daß seine am 15. Oktober 1973, einem Montag, beim SG eingegangene Berufung bei normaler Bearbeitungsdauer noch vor Ablauf der Berufungsfrist dem LSG zugehen würde.
Die auf Beschwerde des Klägers vom Senat mit Beschluß vom 11. August 1976 zugelassene Revision hat dieser am 8. September 1976 eingelegt und begründet. Er macht geltend, das SG habe ihm eine falsche Rechtsmittelbelehrung dahingehend erteilt, die Berufung sei innerhalb eines Monats einzulegen. Deshalb sei für die Berufungseinlegung die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) maßgebend. Entgegen der Meinung des LSG sei aber auch eine Versäumung der Berufungsfrist nicht auf sein Verschulden zurückzuführen. Er habe zwar die Berufung "durch das SG an das LSG" adressiert; aus der Tatsache, daß es sich um eine Berufung handelte und daß diese nach der Kenntnis aller Beamten und Angestellten des SG fristgebunden war, hätte beim SG jedoch geschlossen werden müssen, daß dieses Schriftstück sofort an das LSG weiterbefördert werden mußte. Wenn das nicht geschehen und seine Berufung deshalb erst nach Ablauf des 18. Oktober 1973 beim LSG eingegangen sei, könne ihm dies nicht angelastet werden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 21. März 1975 den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat sich zur Revision nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist zulässig (§§ 160, 164, 166, 167 des SGG). Sie erweist sich i. S. der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz auch als begründet.
Das LSG hat die Berufung des Klägers für verspätet erachtet, einen Wiedereinsetzungsgrund verneint und deshalb dem Kläger den Anspruch auf ein Berufungsurteil zur Sache abgesprochen. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Der Kläger hat zwar die Berufungsfrist versäumt; die Voraussetzungen für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf dieser Frist sind jedoch gegeben.
Nach § 151 Abs. 1 i. V. m. § 153 Abs. 1 und § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG ist die Berufung im Falle der Zustellung des angefochtenen Urteils im Ausland beim LSG innerhalb von drei Monaten nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Nach § 151 Abs. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassen (aF) ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Einlegung der Berufung innerhalb dieser Frist zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG erklärt wird. Hierüber und über die Dreimonatsfrist war der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des SG zutreffend unterrichtet worden. Er hat jedoch entgegen dieser Belehrung seine Berufungsschrift, die nach ihrem Kopf "an das LSG durch das SG" gerichtet war, in einem an das SG adressierten Briefumschlag abgesandt. Durch den Eingang der Berufungsschrift beim SG wurde somit die Berufungsfrist nicht gewahrt. Dies ist möglicherweise vom Kläger verkannt worden. Denn es ist nicht auszuschließen, daß er sich über den Begriff der "Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle" nicht vollständig im klaren war und deshalb davon ausging, daß hier auch eine schriftliche Erklärung in Betracht kommen könne.
Beim SG konnte diese Unklarheit angesichts der Rechtskenntnis der dort beschäftigten Personen und insbesondere wegen der Möglichkeit, sich im Zweifelsfall durch richterliche Auskunft zu vergewissern, nicht bestehen. Beim SG war somit bei Eingang des Berufungsschriftsatzes kein Zweifel darüber möglich, daß es sich hier sowohl nach dem Kopf des Schreibens als auch der Sache nach um eine für das LSG bestimmte Rechtsmittelschrift handelte, die insbesondere auch zur Wahrung der Berufungsfrist diente und deshalb ohne jede Verzögerung an das LSG weiterzuleiten war. Das SG durfte somit nicht das nach § 151 Abs. 2 Satz 2 SGG aF für die fristwahrende Berufungseinlegung beim SG vorgesehene Verfahren anwenden. Vielmehr handelte es sich um einen Fall des § 151 Abs. 1 SGG, in dem die Anforderung der Prozeßakten des SG gemäß § 152 Abs. 1 SGG durch die Geschäftsstelle des LSG zu erfolgen hatte. Dies ist vom SG nicht beachtet worden. Wäre statt dies hier nicht maßgeblichen Verfahrens nach § 151 Abs. 2 Satz 2 SGG aF der Berufungsschriftsatz des Klägers ordnungsgemäß behandelt worden, so wäre nach seinem Eingang nicht erst die Beifügung der Prozeßakten des SG, sondern unmittelbar die Absendung an das LSG verfügt und durchgeführt worden. Bei normaler Bearbeitung hätte dies - trotz angespannter Schreibkräftesituation - durch handschriftlichen Vermerk und Aufgabe zur Post ohne besondere Belastung des SG am 16. Oktober 1973 geschehen können, so daß die Berufungsschrift des Klägers dem LSG bei normalem Postlauf mit Sicherheit noch am 18. Oktober 1973 zugegangen wäre. Damit wäre die Berufungsfrist gewahrt worden.
Der Senat bezieht sich zur weiteren Begründung auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1974 - GS 2/73 - (BSGE 38, 248). Danach kann einem Rechtsmittelkläger - jedenfalls wenn es sich um eine natürliche Person handelt - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG auch dann gewährt werden, wenn seine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle (z. B. Gericht, Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts) übersandt worden ist und die Rechtsmittelschrift infolge fehlsamen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Folgen der Fehlleitung durch ein von der angegangenen Stelle zu erwartendes sachgerechtes Handeln hätten ausgeglichen werden können und die Einhaltung der Rechtsmittelfrist durch eine Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang - ohne außergewöhnliche Maßnahmen - gewährleistet gewesen wäre (vgl. BSG a. a. O. S. 262). Das trifft hier aus den bereits dargelegten Gründen zu (vgl. auch Urteil BSG vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71 - SGb 1971, 477).
Das LSG hat dem Kläger mithin zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist versagt und ein Prozeßurteil statt des hier gebotenen Sachurteils gefällt. Sein Urteil unterliegt daher der Aufhebung. Mangels der für eine Sachentscheidung erforderlichen Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit in der Sache abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen