Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes. ständige Rechtsprechung iS von § 330 Abs 1 SGB 3. Konkursausfallgeld. nach Beendigung eines Vertragsverhältnisses bei Verpachtung eines Theaters. Betriebsübergang
Leitsatz (amtlich)
Eine ständige Rechtsprechung, die nach Erlass des Verwaltungsakts entstanden ist, ist nicht nur die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, sondern auch die Rechtsprechung des für entscheidungserhebliche Vorfragen zuständigen obersten Gerichtshofs des Bundes (Fortführung von BSG vom 23.3.1995 – 11 RAr 71/94 = SozR 3-4100 § 152 Nr 5).
Normenkette
AFG § 141b Abs. 1, § 152 Abs. 1; SGB III § 330 Abs. 1; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1; BGB § 613a
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Februar 2003 wird zurückgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Konkursausfallgeld (Kaug) von August bis Oktober 1997 im Wege der Überprüfung, nachdem das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Rechtsprechung zum Betriebsübergang geändert hatte.
Der 1965 geborene Kläger war als Tänzer am M.…-Theater in B.… beschäftigt. Dieses Theater hatte das Land B.… mit einem Überlassungs- und Pachtvertrag der M.…-Theater Betriebsgesellschaft mbH überlassen. Es kündigte den Vertrag zum 31. Juli 1997. Der Kläger erhielt in der Zeit vom 1. August bis 15. Oktober 1997 kein Arbeitsentgelt. Am 16. Oktober 1997 wurde das Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen der M.…-Theater Betriebsgesellschaft mbH eröffnet. Der Gesamtvollstreckungsverwalter kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. November 1997. Am 20. November 1999 schloss der Kläger mit dem Land B.… einen Vergleich vor dem Bühnenschiedsgericht, wonach Einigkeit bestehe, “dass das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Gemeinschuldnerin auf Grund fristgemäßer Kündigung des Gesamtvollstreckungsverwalters aus betriebsbedingten Gründen mit dem 30. November 1997 geendet” habe. Wegen der Kündigung des Gesamtvollstreckungsverwalters versprach das Land B…. dem Kläger eine Abfindung von 4221 DM. Der Kläger widersprach vorsorglich einem etwaigen Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf das Land B.….
Die beklagte Bundesanstalt (BA) bewilligte dem Kläger Arbeitslosengeld ab 19. August 1997. Den Antrag auf Kaug lehnte sie mit Bescheid vom 30. Januar 1998 ab, weil der Theaterbetrieb durch die Kündigung des Überlassungs- und Pachtvertrages zum 31. Juli 1997 wieder auf das Land B.… übergegangen sei. Der vom Kläger geltend gemachte Lohnausfall ab 1. August 1997 sei nicht vor dem Betriebsübergang entstanden. Diesen Bescheid hat der Kläger nicht angefochten.
Am 9. November 1999 beantragte der Kläger, den Ablehnungsbescheid zu überprüfen und auf den Antrag vom 14. August 1998 Kaug zu zahlen. Er verwies auf Entscheidungen des BAG in Verfahren anderer Beschäftigter des M.…-Theaters gegen das Land B.…, vom 20. September 1999, in denen das BAG deren Klagen auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses zum Land B.… abgewiesen habe, weil der Betrieb des M.…-Theaters nicht wieder auf das Land übergegangen sei.
Die BA lehnte den Zugunstenantrag ab (Bescheid vom 12. April 2000; Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2000), weil das BAG seine Rechtsprechung zum Betriebsübergang erstmals mit einem Urteil vom 18. März 1999 geändert habe, wonach ein Betriebsübergang auf einen Verpächter nur eintrete, wenn dieser den Betrieb tatsächlich weiterführe. Die von der Auslegung der BA abweichende Rechtsprechung führe erst von dem Zeitpunkt ihrer Änderung an zu einer anderen Beurteilung des Betriebsübergangs. Sie erfasse nicht den Lohnausfall des Klägers ab 1. August 1997.
Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, die BA habe den Antrag auf Kaug aus Gründen abgelehnt, die nicht der Rechtsprechung des BAG seit dem Urteil vom 18. März 1999 – 8 AZR 189/98 – (BAGE 91, 121 = AP Nr 189 zu § 613a BGB) entsprächen. Seit diesem Urteil sehe das BAG in der bloßen Möglichkeit zu einer unveränderten Fortsetzung des Betriebes nach Kündigung eines Pachtverhältnisses im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung (BAG 16. Juli 1998 – 8 AZR 81/97 – NZA 1998, 1233) nicht mehr einen Betriebsübergang. Im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuchs – Drittes Buch: Arbeitsförderung (SGB III) sei dieser Änderung der Rechtsprechung – auch wenn sie unmittelbar das Arbeitsrecht betreffe – durch Zugunstenbescheide erst vom Zeitpunkt der Änderung an, nicht aber für die hier verfolgten Ansprüche auf Kaug ab 1. August 1997 Rechnung zu tragen. Auch ein Herstellungsanspruch stehe dem Kläger nicht zu, denn die BA sei mit Bescheid vom 30. Januar 1998 der damaligen Rechtsprechung des BAG gefolgt. Es sei nicht zu erkennen, inwiefern es die BA an der verständnisvollen Förderung des damals schon rechtskundig vertretenen Klägers habe fehlen lassen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 44 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch: Verwaltungsverfahren (SGB X), § 330 SGB III und § 141b Arbeitsförderungsgesetz. Die Überprüfung bindender Bescheide werde nach § 330 Abs 1 SGB III nicht begrenzt, wenn ein falscher Sachverhalt zu Grunde gelegt wurde. Die BA habe die Aufgabe gehabt, im Hinblick auf den Kaug-Antrag des Klägers den Arbeitgeber in eigener Zuständigkeit festzustellen. Dazu habe sie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), insbesondere das Urteil vom 30. Juni 1997 – 10 RAr 4/95 – zu berücksichtigen gehabt. Danach finde ein Betriebsübergang durch die Rückgabe eines Betriebsgrundstücks nicht statt, wenn der frühere Betriebsinhaber den Betrieb schon zuvor stillgelegt habe. Das M.…-Theater sei nicht durch die M.…-Theater Betriebsgesellschaft stillgelegt worden, sodass ein Betriebsübergang vorgelegen habe. Das LSG habe die entsprechenden Tatsachen nicht ausdrücklich festgestellt. Die Annahme, nur auf Grund der Änderung der Rechtsprechung des BAG mit Urteil vom 18. März 1999 sei ein Betriebsübergang auf das Land Berlin zu verneinen, sei nicht zutreffend. Insofern komme es nicht darauf an, ob nach Erlass des bindenden Bescheids vom 30. Januar 1998 eine abweichende ständige Rechtsprechung durch ein anderes Bundesgericht als das BSG entstanden sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 20. November 2000 und des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Februar 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2000 aufzuheben, und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 30. Januar 1998 dem Kläger Konkursausfallgeld für die Zeit vom 1. August bis 15. Oktober 1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Die Entscheidung des LSG beruht nicht auf einer Gesetzesverletzung. Dem Kläger ist nicht im Wege der Überprüfung Kaug für die Zeit vom 1. August bis 15. Oktober 1997 zu bewilligen.
Auch wenn sich der bindende Bescheid der BA vom 30. Januar 1998, mit dem sie den Antrag des Klägers auf Kaug für die Zeit vom 1. August bis 15. Oktober 1997 abgelehnt hat, nachträglich als unrichtig erweist, ist er nicht nach § 44 Abs 1 SGB X für die Vergangenheit zurückzunehmen. Für den Bereich des Arbeitsförderungsrechts bestimmt § 330 Abs 1 SGB III, dass ein bindender Verwaltungsakt nur für die Zeit nach dem Entstehen einer ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen ist, wenn er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach seinem Erlass in ständiger Rechtsprechung anders als durch die BA ausgelegt worden ist. Diese Regelung schließt eine Entscheidung zu Gunsten des Klägers aus.
Die BA ist in dem Bescheid vom 30. Januar 1998 davon ausgegangen, dass durch die Kündigung des Pacht- und Überlassungsvertrages zwischen dem Land B.… und der M.…-Theater Betriebsgesellschaft zum 31. Juli 1997 ein Betriebsübergang stattgefunden habe. Ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der M.…-Theater Betriebsgesellschaft habe damit nach dem 31. Juli 1997 nicht mehr bestanden. Der Kläger habe Lohnforderungen geltend gemacht, die nicht vor dem Betriebsübergang entstanden seien. Die Auslegung des § 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wonach ein Betriebsübergang stattfindet, wenn ein gepachtetes Betriebsgrundstück nach Beendigung des Pachtvertrages an den Verpächter zurückgegeben wird und dieser die Möglichkeit zur unveränderten Fortführung des Betriebs hat, ohne den Betrieb tatsächlich fortzuführen, entsprach der damaligen Rechtsprechung des BAG (BAGE 80, 74, 79 = AP Nr 128 zu § 613a BGB; BAG Urteil vom 16. Juli 1998 – 8 AZR 81/87 – NZA 1998, 1233). Etwas anderes galt – worauf die Revision zutreffend hinweist – nur dann, wenn der frühere Betriebsinhaber schon vor Rückfall der wesentlichen Betriebsmittel den Betrieb stillgelegt hatte (BAG aaO). Im Anschluss an Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat das BAG seine Rechtsprechung beginnend mit einem Urteil vom 12. November 1998 – 8 AZR 282/97 – (BAGE 90, 163, 167 = AP Nr 186 zu § 613a BGB) geändert. Ein Betriebsübergang wird danach nicht mehr angenommen, wenn der neue “Inhaber” den Betrieb nicht weiterführt (ebenso BAGE 91, 121, 126 = AP Nr 189 zu § 613a BGB). Mit diesen Entscheidungen hat das BAG eine ständige Rechtsprechung begründet, die für den Betriebsübergang nicht die bloße Möglichkeit zur Fortsetzung des Betriebes, sondern die tatsächliche Fortsetzung fordert. Da das Land B.… das M.…-Theater, bei dem der Kläger beschäftigt war, nach Kündigung der Pachtverträge nicht fortgeführt hat, lag nach der neueren Rechsprechung des BAG kein Betriebsübergang vor. Davon ist das BAG auch in mehreren Rechtsstreitigkeiten anderer Arbeitnehmer des M.…-Theaters gegen das Land B.… ausgegangen (vgl ua BAG Urteil vom 23. September 1999 – 8 AZR 135/99). Danach war die Ablehnung von Kaug vom 1. August bis 15. November 1997 gemessen an der neueren Rechtsprechung des BAG zwar unrichtig, eine Änderung des Ablehnungsbescheids vom 30. Januar 1998 war jedoch nach § 330 Abs 1 SGB III ausgeschlossen, weil sich die Unrichtigkeit erst nachträglich aus der Änderung der Rechtsprechung beginnend mit dem Urteil des BAG vom 12. November 1998 ergab.
Die Feststellungen des LSG hierzu sind entgegen den von der Revision geäußerten Zweifeln ausreichend. Das LSG hat festgestellt, dass das M.…-Theater durch einen Überlassungs- und Pachtvertrag im August 1996 vom Land B.… an die M.…-Theater Betriebsgesellschaft übergegangen ist und der Vertrag zum 31. Juli 1997 vom Land B.… gekündigt wurde. Das LSG konnte auch davon ausgehen, dass das Land B.…, das ja bis August 1996 das Theater betrieben hatte, die Möglichkeit hatte, den Theaterbetrieb fortzusetzen. Tatsachen, die darauf schließen ließen, dass das Land B.… oder aber auch die M.…-Theater Betriebsgesellschaft vor Rückgabe der Betriebsmittel an das Land B.… den Theaterbetrieb stillgelegt hätten, sind vom LSG nicht festgestellt worden. Solches ist auch im Klage- und Berufungsverfahren nicht behauptet worden. Bis zum Schluss des Berufungsverfahrens ist der Kläger selbst davon ausgegangen, seinerzeit sei auf Grund der damaligen Rechtsprechung des BSG von einem Betriebsübergang auf das Land B.… auszugehen gewesen. Unter diesen Umständen bestand für das LSG weder Anlass, eigene Ermittlungen zur Frage einer Stilllegung des Theater-Betriebs vor dem 31. Juli 1997 anzustellen und entsprechende tatsächliche Feststellungen im Urteil zu treffen. Mit dem tatsächlichen Vorbringen zum Zeitpunkt der letzten Vorstellung des M.…-Theaters und der Auflösung der M.…-Theater Betriebsgesellschaft mbH kann der Kläger im Revisionsverfahren nicht gehört werden (§ 162 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Der Anwendung des § 330 Abs 1 SGB III steht nicht entgegen, dass eine ständige Rechtsprechung des BAG und nicht etwa des BSG nach dem Ablehnungsbescheid vom 30. Januar 1998 entstanden ist. Schon der Wortlaut des § 330 Abs 1 SGB III enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass mit der ständigen Rechtsprechung nur eine solche des BSG gemeint sein könnte. Entscheidend ist allein, dass eine Rechtsprechung nach der Entscheidung der BA über die Ablehnung von Kaug entstanden ist, die von der Auslegung einer einschlägigen Rechtsnorm durch die BA abweicht. Dies trifft hier für die Frage des Betriebsübergangs und damit die Bestimmung des Arbeitgebers des Klägers für die Zeit ab 1. August 1997 zu. Mit Recht weist die Revision im Übrigen auf die Vorfragenkompetenz von Verwaltung und Gerichten hin. Haben diese in eigener Verantwortung Rechtsnormen des Arbeitsrechts – hier § 613a BGB – auszulegen, so ist § 330 Abs 1 SGB III auch anzuwenden, wenn eine solche Rechtsnorm in ständiger Rechtsprechung durch den zuständigen obersten Gerichtshof des Bundes anders ausgelegt wird als von der BA. Nur so ist die Funktion der obersten Gerichtshöfe des Bundes, als Revisionsgerichte die Rechtseinheit zu wahren und der Rechtsfortbildung zu dienen, gewährleistet. Etwas anderes lässt sich der Entscheidung des Senats vom 23. März 1995 – 11 RAr 71/94 (BSG SozR 4100 § 152 Nr 5) nicht entnehmen. Die Frage, ob auch eine ständige Rechtsprechung eines anderen obersten Gerichtshofs im Rahmen des § 330 Abs 1 SGB III erheblich sei, hatte der Senat dort nicht zu beantworten.
Unerheblich ist es, wenn das BSG sich vor der Änderung der Rechtsprechung der früheren Rechtsansicht des BAG angeschlossen hatte (BSG Urteil vom 30. Juni 1997 – 10 RAr 4/95 –). Das BSG ist davon ausgegangen, der Betrieb dürfe nicht zuvor stillgelegt worden sein. Die Frage, ob allein die Möglichkeit der Betriebsfortführung für den Betriebsübergang ausreiche, war jedoch in jenem Verfahren nicht entscheidungserheblich. Einer Anfrage an den 10. Senat des BSG wegen einer Abweichung bedürfte es im Übrigen nicht, weil der 10. Senat für das Kaug nicht mehr, sondern allein der erkennende Senat zuständig ist (§ 41 Abs 3 Satz 2 SGG).
Die Revision des Klägers kann danach keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1093717 |
EWiR 2004, 823 |
ZIP 2004, 330 |
EzA-SD 2004, 14 |
SozR 4-4300 § 330, Nr. 1 |