Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Arbeitsstätte bei alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ob ein - auf dem Wege von der Arbeitsstätte nach Hause verunglückter - Fußgänger alkoholbedingt verkehrsuntüchtig gewesen ist, beurteilt sich nicht nach den für die Fahrer von Kraftfahrzeugen (Kraftwagen und -räder) geltenden Grenzwerten. Auch ein Fußgänger mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,4 Promille ist deshalb nicht ohne weiteres als verkehrsuntüchtig anzusehen, sondern nur dann, wenn dafür entsprechende typische Anzeichen vorliegen, die ihn von einem nüchternen Verkehrsteilnehmer unterscheiden.
Leitsatz (redaktionell)
Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Unfallversicherungsschutz bei alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit sind nicht nur bei Kraftfahrern, sondern grundsätzlich auch bei Fußgängern anzuwenden.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist der Witwenrentenanspruch der Klägerin nach deren tödlich verunglücktem Ehemann Friedrich G (G.).
G. war seit Oktober 1971 bei dem Großversandhaus W in P als Arbeiter beschäftigt. Am 14. Januar 1972 verließ er gegen 18 Uhr seine Arbeitsstätte zu Fuß und überquerte die am Werksgelände vorbeiführende B...straße in südlicher Richtung. Dabei wurde er von dem aus westlicher Richtung kommenden Pkw des Kaufmanns K (K.) frontal angefahren; an den hierbei erlittenen Verletzungen verstarb er gegen 18,50 Uhr. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) des G. betrug im Unfallzeitpunkt zwischen 1,4 und 1,6 0 / 00 . An dem Unfall nichtbeteiligte Zeugen sind nicht vorhanden. Die Beklagte lehnte mit ihrem Bescheid vom 27. Juni 1973 Hinterbliebenenleistungen an die Klägerin ab, weil der Alkoholgenuß die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. September 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin, mit der sie die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Witwenrente beantragt hatte, zurückgewiesen (Urteil vom 28. April 1976). Es hat zur Begründung ua ausgeführt, G. habe sich im Unfallzeitpunkt auf einem nach § 550 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Heimweg befunden, dennoch habe kein Unfallversicherungsschutz bestanden, weil Alkoholeinwirkungen die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen seien. Seine Fähigkeit, als Fußgänger am Straßenverkehr teilzunehmen, sei infolge des Alkoholgenusses erheblich beeinträchtigt gewesen. Bei einer BAK von mindestens 1,4 0 / 00 sei schon nach allgemeiner Erfahrung davon auszugehen, daß ein Verkehrsteilnehmer auch als Fußgänger deutliche Ausfallerscheinungen aufweise. Zwar lasse sich bei Fußgängern, im Gegensatz zu Kraftfahrern, kein Grenzwert für eine absolute Verkehrsuntüchtigkeit bestimmen. Die Frage der alkoholbedingten Beeinträchtigung im Straßenverkehr und ihrer Kausalität für den Unfallhergang sei deshalb aufgrund einer genauen Prüfung aller speziellen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Solche Umstände lägen vor. Schon in der resorptiven Alkoholphase zwischen 0,2 und 0,5 0 / 00 und in der postresorptiven Phase bei 0,8 0 / 00 bestünden deutliche Störungen in Form von größerer Ablenkbarkeit, Sorglosigkeit und Nachlässigkeit. Bei mehr als 0,8 0 / 00 werde das räumliche Sehen erheblich beeinträchtigt. Die Blendempfindlichkeit sei gesteigert und es träten auch Nystagmusstörungen auf, wodurch subjektiv die gesehenen Objekte räumlich an einer anderen Stelle lägen als in Wirklichkeit. Gegenstände erschienen unscharf und Lichtpunkte würden zu vertikalen und horizontalen Lichtbändern ausgezogen. Auch das Hörvermögen sei entsprechend beeinträchtigt. Nach den Gutachten von Prof. Dr. K und Prof. Dr. K sei daher die BAK des G. die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen, denn in nüchternem Zustand hätte er aufgrund der vollen und nicht beeinträchtigten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit das schnelle und gefahrvolle Herannahen des Pkw, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 km/h gefahren sei und demnach beim Betreten der Fahrbahn noch knapp 90 Meter entfernt gewesen sei, wahrscheinlich bemerkt und sein Verkehrsverhalten danach entsprechend angepaßt oder korrigiert, indem er zumindest stehen geblieben oder sogar wieder etwas zurückgegangen wäre. Besondere Bedeutung komme der Tatsache zu, daß es im Unfallzeitpunkt bereits dunkel gewesen sei und deshalb eine alkoholbedingte Blendwirkung aller Lichtquellen für das Verhalten von G. mitbestimmend gewesen sein dürfte. Das gleiche gelte - nach Prof. Dr. K -, wenn der Pkw nur mit 50 km/h gefahren sei. Aufgrund der äußeren Umstände und der von G. gezeigten Unaufmerksamkeit beim Überqueren der Fahrbahn müsse auf eine alkoholbedingte Beeinträchtigung der Verkehrstüchtigkeit geschlossen werden. G. sei erst kurz vor Erreichen des gegenüberliegenden Gehweges angefahren worden. Das herankommende beleuchtete Fahrzeug sei auch aus großer Entfernung sichtbar gewesen und andere Fahrzeuge seien, soweit feststellbar, nicht vorhanden gewesen, so daß G. durch äußere Umstände nicht von der Verkehrssituation hätte abgelenkt sein können. Gemessen an der einfachen, ohne weiteres überschaubaren Verkehrssituation müsse bei G. ein hohes Maß an Fehlverhalten festgestellt werden. Es liege sehr nahe, daß sich dabei die alkoholbedingten Ausfallerscheinungen ausgewirkt hätten. Das Verhalten des G. lasse sich nämlich am ehesten entweder als Folge der alkoholbedingten verstärkten Blendwirkung, der ebenfalls alkoholbedingten Fehleinschätzung von Entfernung und Geschwindigkeit des herannahenden Fahrzeugs als Folge einer durch den Alkohol verursachten verzögerten Reaktion oder aber durch eine so starke Unaufmerksamkeit erklären, wie sie in erster Linie durch eine BAK ab 0,8 0 / 00 verursacht werde. Die Auswirkung einer nicht alkoholbedingten, ebenfalls möglichen Unaufmerksamkeit infolge Gedankenabwesenheit könne zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, sei aber infolge des hohen Grades des Fehlverhaltens wenig wahrscheinlich. Überdies liege es sogar nahe, daß G. infolge anfänglicher Fehleinschätzung oder Unaufmerksamkeit die Gefahr verspätet bemerkt und dann infolge der Alkoholeinwirkung entweder überhaupt nicht oder verzögert reagiert habe und deshalb nicht mehr oder nicht rechtzeitig durch Stehenbleiben oder rasches Gehen habe ausweichen können. Da die für eine Alkoholauswirkung sprechenden Gründe somit überwiegend seien, müsse angenommen werden, daß G. ohne Alkoholeinwirkung wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Der Geschwindigkeit des mit 75 km/h herannahenden Pkw komme bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges nicht die überwiegende Bedeutung zu. Auch bei einer Geschwindigkeit von nur 50 km/h gelte nichts anderes. Noch bestehende Zweifel, ob G. im nüchternen Zustand - wie angeblich andere Fußgänger - wahrscheinlich auch verunglückt wäre, gingen zu Lasten der Klägerin, weil in einem solchen Falle die Folgen der Beweislosigkeit von demjenigen zu tragen seien, der einen Entschädigungsanspruch geltend mache. Zwar könnten sich Fußgänger auch im nüchternen Zustand im Verkehr unaufmerksam verhalten; entscheidend sei jedoch nur, wie sich G. im nüchternen Zustand verhalten hätte. Dessen ungeachtet sei die Alkoholbeeinflussung des G. wesentliche Unfallursache gewesen, weil es naheliege, daß das aus der konkreten Verkehrssituation sich ergebende hohe Maß an Fehlverhalten darauf zurückzuführen sei.
Zur Begründung ihrer von dem erkennenden Senat zugelassenen Revision (Beschluß vom 28. Oktober 1976) trägt die Klägerin vor das LSG habe unzutreffenderweise die Maßstäbe, wie sie für Kraftfahrer gelten, für die Beurteilung alkoholischer Beeinflussung von Fußgängern angewandt. Aus seinen Feststellungen ergebe sich nicht, daß der Alkoholeinfluß für das Zustandekommen des Unfalls maßgeblich gewesen sei. Wie die Klägerin wiederholt unter Beweis gestellt habe, spielte sich nämlich die weit überwiegende Mehrzahl der Fußgängerunfälle beim Überqueren der Straße von links nach rechts bei nüchternen Fußgängern im wesentlichen in genau derselben Weise ab wie im vorliegenden Fall. Das LSG hätte daher den beantragten verkehrstechnischen Sachverständigen hören müssen und sich nicht mit medizinischen Begutachtungen begnügen dürfen, die lediglich die theoretische Frage erörtert hätten, daß der Alkohol sich nachteilig auf Beobachtungs- und Konzentrationsfähigkeit auswirke. Eine erheblich überhöhte Geschwindigkeit im Ortsbereich werde typischerweise in der Dunkelheit bei beleuchtetem Fahrzeug von Fußgängern nicht oder nicht ausreichend beachtet. Ebenso typisch sei es, daß der Fußgänger das Fahrzeug entweder nicht wahrnehme oder aufgrund der erheblichen Entfernung zu der verfehlten Annahme komme, das Fahrzeug könne ihm nicht gefährlich werden. Die Akten A, deren Beiziehung beantragt worden sei, hätten dies bestätigt. Auch habe das LSG die Auswirkungen einer BAK von 1,4 0 / 00 nicht sachgerecht bewertet. Bei einem Fußgänger müßten insoweit wesentlich andere Maßstäbe angelegt werden als bei einem Kraftfahrer. So müsse bei einem Fußgänger sogar eine BAK von 2,3 0 / 00 noch nicht zur Verkehrsuntüchtigkeit führen, es müßten vielmehr konkrete weitere eindeutige Beweisanzeichen vorliegen. Solche Beweisanzeichen seien hier von dem LSG in keiner Weise ermittelt worden. Das LSG habe insoweit weitgehend Spekulationen angestellt, anderseits aber das vorgeschrittene Alter des G. (fast 60 Jahre) und seine Übermüdung nicht berücksichtigt.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1976 sowie das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. September 1975 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente zu gewähren, |
hilfsweise,
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den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen. |
Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Das von dem LSG festgestellte Verhalten des Ehemannes der Klägerin sei derart ungewöhnlich gewesen und habe derart im Gegensatz zu dem eines nüchternen Verkehrsteilnehmers gestanden, daß mindestens von relativer Verkehrsuntüchtigkeit ausgegangen werden müsse. Damit sei jedoch der Zusammenhang mit der vorangegangenen Betriebstätigkeit gelöst gewesen, so daß Unfallschutz nicht bestanden habe. Das LSG habe im übrigen den beiden Beweisanträgen nicht entsprechen müssen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision der Klägerin ist, nachdem sie von dem erkennenden Senat zugelassen worden ist (Beschluß vom 28. Oktober 1976) statthaft. Sie ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Die von dem LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung über den streitigen Witwenrentenanspruch der Klägerin nicht aus.
Der Ehemann der Klägerin (G.) hatte am 14. Januar 1972 gegen 18,00 Uhr seine Arbeitsstätte bei dem Großversandhaus W in Pforzheim, wo er als Arbeiter beschäftigt war, verlassen und überquerte die an dem Werksgelände vorbeiführende Blücherstraße. Dabei wurde er von einem herannahenden Pkw angefahren und so schwer verletzt, daß er um 18,50 Uhr verstarb. Es wurde eine BAK von mindestens 1,4 0 / 00 bei ihm festgestellt.
Zutreffend geht das LSG davon aus, daß die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes bei alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit nicht nur bei Kraftfahrern, sondern auch bei Fußgängern anzuwenden sind. Denn Fußgänger sind ebenso wie Kraftfahrer Verkehrsteilnehmer, und der Unfallversicherungsschutz auf Betriebswegen und Wegen nach und von der Arbeitsstätte (§ 550 Abs. 1 RVO) folgt daraus, daß die Wegegefahr derjenigen Gefahr gleichgeachtet wird, die von betrieblichen Einrichtungen ausgeht. Ist die Wegegefahr daher nicht im Sinne der in der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Kausallehre die rechtlich allein wesentliche Unfallursache, besteht kein Versicherungsschutz für den Verunglückten. Nach der seit dem Urteil des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Juni 1960 (BSGE 12, 242 ff) ständigen Rechtsprechung, der sich auch der erkennende Senat wiederholt angeschlossen hat, würde daher der auf dem Heimweg bestehende Versicherungsschutz des G. entfallen sein, wenn er alkoholbedingt verkehrsuntüchtig gewesen und diese seine Verkehrsuntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen wäre. Bevor die Frage nach der rechtlich allein wesentlichen Ursächlichkeit untersucht werden kann, ist aber festzustellen, ob der Verletzte infolge des Alkoholgenusses verkehrsuntüchtig gewesen ist. Eine Verkehrsuntüchtigkeit ist jedoch noch nicht gegeben, wenn die vom LSG beschriebenen Anzeichen, die bei einer BAK von 0,2 bis 0,5 0 / 00 bzw. 0,8 0 / 00 zu erwarten sind, auftreten. Erforderlich ist vielmehr die Feststellung, daß diese und ähnliche, bei einer höheren BAK zu beobachtenden Störungen den Verletzten im Unfallzeitpunkt "verkehrsuntüchtig" gemacht haben. Denn bei einem Versicherten, der trotz Alkoholgenusses in der Lage ist, den Anforderungen des Verkehrs zu genügen, treten die Auswirkungen des Alkohols nicht derart in den Vordergrund, daß demgegenüber die allgemeinen oder besonderen verkehrsbedingten Wegegefahren, denen auch jeder nüchterne Verkehrsteilnehmer ausgesetzt ist, als unwesentlich in den Hintergrund rücken. Daß ein unter Alkoholeinfluß stehender Versicherter unabhängig von sonstigen Beweisanzeichen verkehrsuntüchtig ist, ist allerdings grundsätzlich dann anzunehmen, wenn bei ihm eine "absolute" Verkehrsuntüchtigkeit vorliegt. Dies ist bei Kraftfahrern der Fall, wenn eine BAK von wenigstens 1,3 0 / 00 vorgelegen hat (vgl. BSGE 12, 242).
Hier ist jedoch ein Fußgänger verunglückt. Für diesen können schon deshalb nicht die gleichen Grundsätze gelten, weil es andernfalls sinnlos wäre, den angetrunkenen Kraftfahrer im Interesse der Verkehrssicherheit aufzufordern, sein Fahrzeug unbenutzt zu lassen und auf andere Weise - etwa zu Fuß oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, dessen Benutzung ebenfalls in aller Regel mit einem Gang zu Fuß verbunden ist - seinen Weg fortzusetzen bzw. heimzukehren. Solange er sich daher nicht im Zustand des "Vollrausches" befindet (vgl. dazu BSGE 12, 242, 245 und Gutachten des Bundesgesundheitsamtes "Alkohol bei Verkehrsstraftaten", Kirschbaum-Verlag, 2. Aufl. 1966 S. 52, bedarf es im Einzelfall genauer Prüfung, ob eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit vorliegt. Läßt sich dies nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen, so bleibt der Unfallversicherungs(UV)-schutz erhalten. "Vermutungen" und "Annahmen" reichen deshalb zu einer Verneinung des UV-Schutzes nicht aus. Das gleiche gilt, wenn nicht feststellbar ist, daß alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit den Unfall (mit) verursacht hat. Eine Beweislosigkeit geht nur hinsichtlich der Frage, ob neben der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit auch betriebsbezogene Umstände den Unfall wesentlich mitverursacht haben, zu Lasten des Versicherten oder seiner Hinterbliebenen (Urteil des erkennenden Senats vom 20. Januar 1977 - 8 RU 52/76 -).
Bei einem unter Alkoholeinfluß stehenden Fußgänger kann sonach allein aus dem Blutalkoholgehalt - jedenfalls wie hier bei einer BAK von mindestens 1,4 0 / 00 - noch nicht auf Verkehrsuntüchtigkeit geschlossen werden. Anders als bei Kraftfahrern liegen für Fußgänger keine gesicherten Erkenntnisse vor, die bei einer bestimmten BAK allgemein die Annahme von (absoluter) Verkehrsuntüchtigkeit rechtfertigen (vgl. BSGE 10, 46, 48; 27, 40, 41 unter Bezugnahme auf das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes aaO S. 46, 47, 52, 53; BSG - Urteil vom 17. Februar 1972 - 7/2 RU 130/69 - in Blutalkohol 1972, 413, 416; Schönberger in SozVers 1960, 74, 77; Boller in VersR 1968, 217, 224; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand April 1976 II 488 b II, e; Müller, Straßenverkehrsrecht, 22 Aufl. Band I 1969 RdNr 15 zu § 2 StVZO; Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 1976 RdNrn 9 zu § 2 StVZO und 20 zu § 316 StGB mit zahlreichen Nachweisen). Allerdings kann auch ein unter Alkoholeinfluß stehender Fußgänger (relativ) verkehrsuntüchtig sein; bei ihm werden aber die Auswirkungen des genossenen Alkohols auf seine Verkehrstüchtigkeit naturgemäß geringer sein als bei einem Kraftfahrer, weil der Verkehr allein schon wegen der erheblich geringeren Fortbewegungsgeschwindigkeit und der schnelleren Reaktionsmöglichkeit an sein Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen geringere Anforderungen stellt. Neben der BAK und den dadurch medizinisch bedingten Erscheinungen sind daher-jedenfalls bei einem Promillegehalt von 1,4 bis 1,6 - weitere beweiskräftige Umstände erforderlich, um (relative) Verkehrsuntüchtigkeit feststellen zu können (vgl. die o.a. Rechtsprechung und Literatur), zumal die Erfahrung lehrt, daß Trinkgewohnte auch nach erheblichem Trinken u.U. noch als Fußgänger verkehrssicher sein können (Jagusch aaO RdNr. 20 zu § 316 StGB). Zu prüfen ist insoweit die Verkehrssituation (die je einfacher, dh ungefährlicher sie ist, um so geringere Anforderungen an das Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen des Fußgängers stellt) und vor allem das Verhalten des Verunglückten unmittelbar vor und während der Unfallsituation. Sein etwaiges Fehlverhalten kann nur der Ausgangspunkt für eine genauere Überprüfung der Verkehrstüchtigkeit sein; das Fehlverhalten ist - von Fällen schwerer Trunkenheit abgesehen - grundsätzlich nur dann als beweiskräftig für eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit zu erachten, wenn es typisch für einen unter Alkoholeinfluß stehenden Verkehrsteilnehmer ist und nicht ebensogut andere Ursachen haben kann, wie etwa Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung, körperliche Verfassung und ähnliches, die ihren Grund nicht in einem voraufgegangenen Alkoholgenuß haben. Auch die Alkoholverträglichkeit, Alter, Tag- oder Nachtzeit können von Bedeutung sein (BSGE 10, 48). Alle diese Umstände verbieten die schematische Anwendung von Blutalkoholgrenzwerten bei Fußgängern (Schönberger aaO S. 77) und fordern in jedem Fall den Nachweis hinreichend eindeutiger Beweisanzeichen für das tatsächliche Vorliegen einer Verkehrsuntüchtigkeit. Die Annahme des LSG, G. wäre wahrscheinlich nicht verunglückt, wenn er nicht unter Alkoholeinfluß gestanden hätte, weil er dann wahrscheinlich die Entfernung und die Geschwindigkeit des herannahenden Pkws richtig eingeschätzt und nicht versucht hätte, die Straße vor ihm noch zu überqueren, reicht nicht aus, um eine Verkehrsuntüchtigkeit des G. zu bejahen. Denn dies kann auch bei einem nüchternen Fußgänger vorkommen. Eine solche Annahme wäre nur gerechtfertigt, wenn weitere, für einen die Verkehrsuntüchtigkeit beeinträchtigenden Grad von Trunkenheit typische Anzeichen feststellbar wären, etwa Torkeln, unentschlossenes oder unmotiviertes Vor- und Zurückgehen, ganz leichtsinniges oder ausgelassenes Verhalten und ähnliches. Lassen sich insoweit keine hinreichend eindeutigen Feststellungen treffen, so geht dies zu Lasten der Beklagten.
Da das LSG in dieser Richtung keine Feststellungen getroffen hat, war sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen, ohne daß noch auf die erhobenen Verfahrensrügen einzugehen war. Erst wenn Verkehrsuntüchtigkeit unter den oben genannten Voraussetzungen festgestellt ist, wird zu entscheiden sein, ob sie (mit-) ursächlich für den Unfall des G. im Sinne einer rechtlich allein wesentlichen Ursache war. Hierbei werden dann u.U. auch die sonstigen zum Unfall führenden Umstände, wie etwa eine überhöhte Geschwindigkeit des Pkw's des K. oder ein sonstiges verkehrswidriges Verhalten des Fahrers in der Unfallsituation, zu berücksichtigen sein.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1652353 |
BSGE, 293 |