Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU); Anrechnung einer Kindererziehungszeit; Pflegekindschaftsverhältnis
Beteiligte
…, Klägerin und Revisionsklägerin |
Landesversicherungsanstalt Niederbayern-Oberpfalz, Landshut, Am Alten Viehmarkt 2, Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Die Klägerin beansprucht höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) unter Anrechnung einer Kindererziehungszeit. Umstritten ist insbesondere, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen ihr und dem Kind ihrer Schwägerin, der Beigeladenen, vorgelegen hat.
Das am 22. März 1963 geborene nichteheliche Kind der Beigeladenen R. befand sich seit April 1963 bis März 1967 ständig im Haushalt der Klägerin; nach einer Bescheinigung des Landratsamts Tirschenreuth hatte sie das Kind in diesem Zeitraum in Pflege. Die Beigeladene hielt sich zunächst ebenfalls im Haushalt der Klägerin auf und betreute dort ihr Kind. Ab Mai 1963 nahm sie eine Beschäftigung als Stationshilfe im 22 km entfernt gelegenen Kreiskrankenhaus W. auf, wo sie auch untergebracht war. Sie besuchte das Kind von diesem Zeitpunkt an etwa 14-tägig bei der Klägerin, der sie Wartung, Pflege und Erziehung völlig überließ und einen monatlichen Geldbetrag leistete.
Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 12. April 1989 ab, eine Kindererziehungszeit für das Kind R. bei der mit Bescheid vom 17. Februar 1989 ab August 1987 gewährten EU-Rente anzurechnen, weil ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht vorgelegen habe.
Das Sozialgericht Regensburg (SG) hat die Beklagte mit Urteil vom 21. November 1989 unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 12. April 1989 verurteilt, der Klägerin Versichertenrente wegen EU unter zusätzlicher Anerkennung einer Erziehungszeit für das Kind R. in der Zeit vom 1. April 1963 bis zum 31. März 1964 als Versicherungszeit zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Juni 1992). Eine Erziehungszeit für das Kind R. sei bei der Klägerin nicht rentensteigernd zu berücksichtigen, weil ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht vorgelegen habe. Ein solches Verhältnis entstehe nur, wenn das Familienband zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind gelöst sei. Zwar sei das Kind ab Mai 1993 für unbestimmte Zeit im Haushalt der Klägerin aufgenommen gewesen, nachdem es vorher von der Beigeladenen selbst betreut worden sei. Auch sei ein erzieherischer Einfluß der Beigeladenen auf ihr Kind im Hinblick auf die nur 14-tägigen Besuche zu verneinen. Zu einer Lösung der Mutter-Kind-Beziehung sei es gleichwohl nicht gekommen, weil die Beigeladene den gesamten Unterhalt für ihr Kind bestritten habe (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 15. Mai 1991 - 5 RJ 58/90 - [SozR 3-2200 § 56 Nr 3]). Ob sie dabei entsprechend ihren Angaben monatlich 200 DM oder - entsprechend den Angaben der Klägerin - 125 DM geleistet habe, könne dahinstehen, weil auch der letztere Betrag zum damaligen Zeitpunkt hinlänglich genügt habe, um den gesamten Unterhaltsbedarf im ersten Lebensjahr des Kindes zu deken.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das LSG weiche mit seiner Ansicht, für die Beurteilung der Lösung des Familienbandes zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind sei die Frage des finanziellen Unterhalts entscheidend, von der Rechtsprechung des BSG ab (Hinweis auf Urteile vom 22. April 1992 - 5 RJ 20/91 - und vom 23. April 1992 - 5 RJ 70/90 -). Danach sei darauf abzustellen, ob ein familiäres Band zwischen leiblichen Eltern und Kind aufgebaut werden konnte oder ob das Verhältnis wie ein solches zu einem fremden Kind anzusehen war; auf die finanziellen Unterhaltsleistungen komme es nicht an.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Juni 1992 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. November 1989 zurückzuweisen. |
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Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und hat sich zur Sache nicht geäußert.
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Daß die Beigeladene ihre Einwilligung persönlich und nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 SGG) erklärt hat, steht der Wirksamkeit ihres Verzichts auf mündliche Verhandlung nicht entgegen (vgl BSG SozR Nr 5 zu § 124 SGG).
Die Revision der Klägerin ist begründet, soweit sie ihren Anspruch auf Gewährung von Versichertenrente wegen EU unter zusätzlicher Anrechnung einer Erziehungszeit vom 1. Mai 1963 bis zum 31. März 1964 betrifft; soweit die Klägerin darüber hinaus die rentensteigernde Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch für den Monat April 1963 begehrt, ist die Revision unbegründet.
Der Anspruch der Klägerin auf höhere Versichertenrente unter Anrechnung einer Kindererziehungszeit richtet sich noch nach den durch Art 6 Nr 24 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) gestrichenen Vorschriften des Vierten Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO), denn der Rentenantrag ist bereits im November 1986 - also bis zum 31. März 1992 - gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (§ 300 Abs 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Rentenversicherung - [SGB VI]).
Nach § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO werden Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben.
Danach hat die Klägerin Anspruch auf rentensteigernde Anrechnung einer Kindererziehungszeit vom 1. Mai 1963 bis zum 31. März 1964. Sie ist nach dem 31. Dezember 1920 geboren und macht eine vor dem 1. Januar 1986 liegende Zeit der Kindererziehung geltend. In diesem Zeitraum war sie auch "Mutter" des Kindes R. , das sie im damaligen Geltungsbereich der RVO erzogen hat. Gemäß § 1251a Abs 3 Satz 1 iVm § 1227a Abs 3 Satz 1 RVO sind Mütter und Väter iS des Abs 1 auch Stiefmütter, Stiefväter, Pflegemütter und Pflegeväter. Die Legaldefinition in § 56 Abs 3 Nr 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I), auf die § 1227a Abs 3 Satz 1 RVO Bezug nimmt, bezeichnet als Pflegeeltern "Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben", und als Pflegekinder "Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind".
Die Klägerin war im Zeitraum vom 1. Mai 1963 bis zum 31. März 1964 Pflegemutter des Kindes R. iS des § 56 Abs 3 Nr 1 SGB I. Zwischen ihr und dem Kind bestand ein Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft. Sie hatte es nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG in ihrem Haushalt aufgenommen, wobei ihr die Beigeladene Wartung und Pflege vollständig überlassen und auch keinen erzieherischen Einfluß auf das Kind genommen hatte. Im April 1963 hat die Beigeladene nach den bindenden berufungsgerichtlichen Feststellungen ihr neugeborenes Kind im Haushalt der Klägerin jedoch noch selbst versorgt. Für diesen Monat kann daher bereits mangels Betreuung des Kindes durch die Klägerin kein Pflegeverhältnis angenommen werden. Ein Wechsel des nach § 1251a RVO Begünstigten ist indes während des für die Kindererziehungszeit maßgeblichen Zeitraums rechtlich möglich (vgl Senatsurteil vom 8. Oktober 1992 - 13 RJ 47/91 -).
Das Pflegeverhältnis war auch auf längere Dauer iS des § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I angelegt. Dieses Merkmal ist erfüllt, wenn das Pflegeverhältnis für einen Zeitraum begründet wird, der einen für die körperliche und geistige Entwicklung des Pflegekindes erheblichen Zeitraum umfaßt; dafür ist bei Säuglingen ein Zeitraum von etwa drei Jahren ausreichend. Von einer solchen voraussichtlichen Pflegedauer kann ausgegangen werden, wenn ein Säugling - wie hier - von dem sorgeberechtigten Elternteil wegen einer beruflichen Tätigkeit in ständige häusliche Pflege zu einer Pflegeperson gegeben wird (vgl BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 5). Umstände, die hier zu einer anderen Beurteilung führen könnten (vgl dazu etwa Senatsurteil vom 8. Oktober 1992 - 13 RJ 47/91 -, Umdruck S 8), sind nicht ersichtlich. Das LSG hat vielmehr bindend festgestellt, daß das Kind auf unbestimmte Zeit in den Haushalt der Klägerin aufgenommen worden war.
Die Klägerin war mit dem Kind ihrer Schwägerin auch wie eine Mutter mit ihrem Kind verbunden. Ein familiäres Band, durch das die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses ausgeschlossen wäre, hat in der Zeit ab Mai 1963 zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Kind nicht bestanden. Der 5. Senat des BSG ist in Fortführung der Rechtsprechung des BSG zu anderen Vorschriften davon ausgegangen, daß ein zweifaches Familienband, nämlich zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Kind und der Pflegemutter und diesem Kind nicht gleichzeitig unterhalten werden kann, die Beziehungen des Kindes zur leiblichen Mutter mithin gelöst sein müssen (vgl BSGE 67, 211 = SozR 1200 § 56 Nr 1; BSG SozR 3-1200 § 56 Nrn 2, 3 und 5). Dieser Auffassung hat sich der erkennende Senat angeschlossen (Senatsurteile vom 29. Oktober 1991 - 13/5 RJ 22/89 - und vom 8. Oktober 1992 - 13 RJ 47/91 -).
Dabei hat der 5. Senat herausgestellt, daß ein familiäres Band zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind nicht nur deren Wunsch, den Kontakt zu dem eigenen Kind nicht zu lösen, sondern entscheidend auch voraussetzt, daß sie eine Eltern-Kind-Beziehung zu dem Kind auch tatsächlich aufbauen kann. Wenn das Kind mit den Pflegeeltern in häuslicher Gemeinschaft lebt und die leiblichen Eltern das Kind nur gelegentlich bei Besuchen sehen, wird es schon nach dem äußeren Erscheinungsbild nur "besucht"; eine Beziehung wie zu einem eigenen Kind besteht dann nicht (vgl BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 5; s auch Senatsurteil vom 8. Oktober 1992 - 13 RJ 47/91 -). Da die Beigeladene nach den bindenden Feststellungen des LSG ab Mai 1963 an ihrem 22 km entfernten Arbeitsort wohnte und ihr Kind nur etwa 14-tägig an den Wochenenden bei der Klägerin besuchte, liegen diese ein relevantes familiäres Band ausschließenden Voraussetzungen hier vor.
Der Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses steht der Umstand, daß die Beigeladene nach den Feststellungen des LSG den gesamten finanziellen Unterhaltsbedarf des Kindes durch Zahlungen an die Klägerin getragen hat, nicht entgegen. Der 5. Senat hat in seinem Urteil vom 23. April 1992 (SozR 3-1200 § 56 Nr 5) unter Hinweis auf die Entwicklung des Begriffs des Pflegekindes im Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und im SGB I herausgearbeitet, daß dieser Begriff im Sozialrecht von dem früheren Erfordernis, daß die Pflegeeltern einen Teil der Kosten des Unterhalts tragen, gelöst worden ist. Während in § 2 Abs 1 Nr 6 BKGG idF des Gesetzes vom 14. April 1964 noch für das Vorliegen eines Pflegekindverhältnisses ua verlangt wurde, daß der Berechtigte "zu den Kosten des Unterhalts nicht unerheblich beiträgt", ist diese Voraussetzung durch Art 1 Nr 1 Buchst b des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BKGG vom 16. Dezember 1970 (BGBl I S 1725) gestrichen worden. Die Frage, wer die materiellen Aufwendungen für das Kind letztlich trägt, ist demnach für die Frage des Vorliegens oder Nichtvorliegens eines Pflegekindschaftsverhältnisses unerheblich. In dieser Entscheidung hat der 5. Senat seine entgegenstehende Rechtsauffassung im Urteil vom 15. Mai 1991 (SozR 3-2200 § 56 Nr 3), auf die das LSG sich in dem angefochtenen Urteil gestützt hat, ausdrücklich aufgegeben. Der erkennende Senat schließt sich der vom 5. Senat nunmehr vertretenen Auffassung an. Die entgegenstehende Ansicht würde gering verdienende Pflegeeltern ungerechtfertigt benachteiligen, weil ihre - gerade bei Kindern im Säuglingsalter besonders wichtige -tatsächliche Pflegeleistung gegenüber der materiellen Barunterhaltsleistung der leiblichen Eltern für das Kind nicht angemessen berücksichtigt würde (vgl zu § 1262 RVO aF BSG SozR 2200 § 1262 Nr 11).
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen