Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber. Anrechnung Beschäftigter auf die Zahl der Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen. Zulassung der Anrechnung bei Teilzeitbeschäftigung von weniger als 18 Stunden wöchentlich. Antragserfordernis. Zulassung der Anrechnung für die Vergangenheit
Leitsatz (amtlich)
Die nicht von einem Antrag des Arbeitgebers abhängige Zulassung der Anrechnung schwerbehinderter Menschen mit einer Beschäftigung von weniger als 18 Stunden wöchentlich auf einen Pflichtarbeitsplatz kann auch mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen.
Normenkette
SGB IX § 71 Abs. 1 S. 1, § 75 Abs. 2 Sätze 1, 3, § 77 Abs. 1 S. 1, § 80 Abs. 2 Sätze 1-2, § 158 Abs. 2 S. 1; SGB 9 2018 § 158 Abs. 2 S. 1; SGB IX § 158 Abs. 2 S. 3; SGB 9 2018 § 158 Abs. 2 S. 3; SGB IX § 163 Abs. 2 S. 1; SGB 9 2018 § 163 Abs. 2 S. 1; SGB IX § 163 Abs. 2 S. 2; SGB 9 2018 § 163 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 30. September 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für alle Rechtszüge wird auf 755 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit ist die rückwirkende Zulassung der Anrechnung des Arbeitsplatzes einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin mit einem Beschäftigungsumfang von weniger als 18 Wochenstunden auf einen Pflichtarbeitsplatz für das Kalenderjahr 2013.
Die Klägerin zeigte der beklagten Agentur für Arbeit im März 2014 die zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe notwendigen Daten für das Kalenderjahr 2013 an; jahresdurchschnittlich waren 22 Arbeitsplätze vorhanden. In dem beigefügten Verzeichnis der schwerbehinderten Beschäftigten war die 1952 geborene Arbeitnehmerin, bei der 2013 ein Grad der Behinderung von 90 festgestellt worden war und die Tätigkeiten mit einem Beschäftigungsumfang von weniger als 18 Wochenstunden ausgeübt hatte, aufgeführt. Deren Teilzeitbeschäftigung sei wegen Art und Schwere ihrer Behinderung notwendig und die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz auch für das Kalenderjahr 2013 zuzulassen (Antrag vom 14.5.2014; Schreiben vom 25.6.2014).
Die Beklagte ließ die Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz ab dem Monat der Antragstellung zu. Eine rückwirkend über den 1.5.2014 hinausgehende Zulassung der Anrechnung für die Vergangenheit wurde abgelehnt (Bescheid vom 4.7.2014; Teilabhilfebescheid vom 18.11.2014; Widerspruchsbescheid vom 5.3.2015).
Infolge der fehlenden Anrechenbarkeit der Arbeitnehmerin setzte das Integrationsamt aufgrund der für das Kalenderjahr 2013 offenen Ausgleichsabgabe von 690 Euro Säumniszuschläge iHv 65 Euro fest.
Das SG hat der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 4.7.2014 und 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.3.2015 verurteilt, die "Feststellung des Pflichtteilarbeitsplatzes" für die Arbeitnehmerin als Schwerbehinderte für das Kalenderjahr 2013 und für die Zeit vom 1.1. bis 30.4.2014 vorzunehmen (Urteil vom 18.4.2017). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG hinsichtlich des Verurteilungszeitraums vom 1.1. bis 30.4.2014 aufgehoben, die Klage insoweit abgewiesen und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 30.9.2020). Die Zulassung der Anrechnung sei nicht an eine förmliche Antragstellung gebunden und könne auch rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 erfolgen. Dies ergebe sich aus dem in § 80 Abs 1 bis 3 SGB IX aF geregelten Verfahren. Darin habe der Gesetzgeber erkennbar die Entscheidung über in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Sachverhalte vorgesehen. Hieraus folge das fehlende Rechtsschutzbedürfnis für die Zulassung der Anrechnung im laufenden Beschäftigungsverhältnis für die Zeit vom 1.1. bis 30.4.2014.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 75 Abs 2 Satz 3 und § 80 Abs 2 SGB IX aF. Die Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz durch Verwaltungsakt sei Voraussetzung für die Eintragung in das Verzeichnis nach § 80 Abs 1 SGB IX aF. Liege die erforderliche Zulassung nicht vor, sei das Verzeichnis nicht richtig geführt worden. Berücksichtige der Arbeitgeber diese Arbeitnehmerin in der Anzeige, sei auch die Anzeige nicht richtig erstattet worden. Die Angaben eines Arbeitgebers in seiner auf das vorangegangene Kalenderjahr bezogenen Anzeige nach § 80 Abs 2 SGB IX aF könnten daher nicht als ein auf die Zulassung der Anrechnung gerichteter (obligatorischer) Antrag nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF ausgelegt werden. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Zulassung der Anrechnung sei, im Unterschied zu der Regelung des § 69 Abs 1 Satz 2 SGB IX aF, nicht normiert.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 30. September 2020 aufzuheben, soweit es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat, sowie das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 18. April 2017 vollständig aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat ihre Berufung, soweit verfahrensgegenständlich, zu Recht zurückgewiesen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 4.7.2014 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 18.11.2014, der kraft Gesetzes nach § 86 Halbsatz 1 SGG in das Widerspruchsverfahren einbezogen wurde, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.3.2015 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die rückwirkende Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz abgelehnt hat. Ihr Begehren verfolgt die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), da die Entscheidung über die Zulassung durch Verwaltungsakt erfolgt (vgl Joussen in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6. Aufl 2022, § 158 RdNr 6; Schaumberg in Knittel, SGB IX, § 158 RdNr 9, Stand 1.10.2018). In der Sache ist das Verfahren, mangels eigener Revision der Klägerin, beschränkt auf das Kalenderjahr 2013.
Das zuständige Integrationsamt (§ 77 Abs 4 Satz 1 und 2 iVm § 102 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB IX aF; heute § 160 Abs 4 Satz 1 iVm § 185 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB IX) war zum vorliegenden Rechtsstreit nicht notwendig beizuladen (§ 75 Abs 2 Alt 1 SGG). Denn die Frage der Rechtmäßigkeit des Bescheids über die Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF (heute § 158 Abs 2 Satz 3 SGB IX) ist allenfalls Vorfrage für einen möglichen Bescheid über die Ausgleichsabgabe des Integrationsamts nach § 77 Abs 4 Satz 2 SGB IX aF (vgl BSG vom 10.12.2019 - B 11 AL 1/19 R - SozR 4-3250 § 154 Nr 1 RdNr 13 mwN; BSG vom 4.3.2021 - B 11 AL 3/20 R - BSGE 131, 278 = SozR 4-3250 § 156 Nr 2, RdNr 12; zur Kompetenzverteilung zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den Integrationsämtern auch BVerwG vom 14.4.2021 - 5 C 13.19, NVwZ-RR 2021, 897 RdNr 13 ff).
Die fehlende Beiladung der Arbeitnehmerin begründet ebenfalls keinen von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel. Die Zulassungsentscheidung nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF entfaltet unmittelbare Rechtswirkungen allein gegenüber dem Arbeitgeber (§ 77 Abs 1 Satz 1 und 2 und § 156 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB IX aF; heute § 160 Abs 1 Satz 1 und 2 und § 238 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB IX; vgl Lampe in Großmann/Schimanski, GK-SGB IX, § 75 RdNr 44, Stand März 2014).
Weil sich die angefochtenen Bescheide auf das Kalenderjahr 2013 beziehen, ist noch das SGB IX in seiner bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (SGB IX aF) mit den besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht) in §§ 68 ff SGB IX aF anwendbar. Erst durch Art 1 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23.12.2016(BGBl I 3234) sind diese Vorschriften zum 1.1.2018 - weitgehend wortgleich - in Teil 3 des SGB IX (§ 151 ff SGB IX) verschoben worden.
Die verfahrensgegenständlichen Bescheide sind im streitbefangenen Umfang rechtswidrig und die Klägerin ist hierdurch beschwert (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 einen Anspruch auf Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenhang der § 75 Abs 2 Satz 3 und § 80 Abs 1 bis 3 SGB IX aF sowie dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe.
Nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF lässt die Agentur für Arbeit die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, der weniger als 18 Stunden wöchentlich beschäftigt wird, auf einen Pflichtarbeitsplatz zu (§ 71 Abs 1, § 73 Abs 1 SGB IX aF; heute § 154 Abs 1, § 156 Abs 1 SGB IX), wenn die Teilzeitbeschäftigung wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist. Nach § 80 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF (heute § 163 Abs 2 Satz 1 SGB IX) hat ein Arbeitgeber der für seinen Sitz zuständigen Agentur für Arbeit spätestens bis zum 31. März für das vorangegangene Kalenderjahr diejenigen Daten anzuzeigen, die zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht notwendig sind. Das vom Arbeitgeber eigenverantwortlich laufend zu führende Verzeichnis der bei ihm beschäftigten schwerbehinderten, ihnen gleichgestellten behinderten Menschen und sonstigen anrechnungsfähigen Personen (§ 80 Abs 1 SGB IX aF; heute § 163 Abs 1 SGB IX) ist der Anzeige beizufügen (§ 80 Abs 2 Satz 2 SGB IX aF; heute § 163 Abs 2 Satz 2 SGB IX). Zu den in diesem Sinn anzeigepflichtigen "sonstigen anrechnungsfähigen Personen" zählen auch teilzeitbeschäftigte schwerbehinderte Menschen iS des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF (Brose in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK-SozR, § 163 SGB IX RdNr 4, Stand 1.12.2021; Dau in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6. Aufl 2022, § 163 RdNr 4; Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl 2020, § 163 RdNr 5; Marschner in Spiolek, GK-SGB IX, § 163 RdNr 15, Stand April 2021).
Die angezeigten Daten hat die Agentur für Arbeit unter Einbeziehung des beigefügten Verzeichnisses nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht auf ihre Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen (vgl Brose in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK-SozR, § 163 SGB IX RdNr 13, Stand 1.12.2021; Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl 2020, § 163 RdNr 23; Gutzler in Hauck/Noftz, SGB IX, § 163 RdNr 16, Stand November 2017; Marschner in Spiolek, GK-SGB IX, § 163 RdNr 27, Stand April 2021). Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte des § 80 Abs 3 SGB IX aF (heute § 163 Abs 3 SGB IX) gestützt. Nach der bis zum 30.6.2001 geltenden Fassung des § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG erschöpfte sich der Regelungscharakter des Feststellungsbescheids darin, dass die "Verfügung" der Agentur für Arbeit an die Stelle der Anzeige des Arbeitgebers tritt und deren Funktion als Beweismittel in Form einer öffentlichen Urkunde (§ 418 ZPO) übernimmt. Der Agentur für Arbeit stand kein Recht zur Korrektur der rechtlichen Bewertung über korrekte tatsächliche Angaben zu (BSG vom 20.1.2000 - B 7 AL 26/99 R - BSGE 85, 246, 248 f = SozR 3-3870 § 13 Nr 4 S 18 - juris RdNr 18). Die mit § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG zunächst wortgleiche Entwurfsfassung des § 80 Abs 3 SGB IX aF wurde im Gesetzgebungsverfahren um den Passus "nach Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht" ergänzt (BT-Drucks 14/5531 S 10). Die Agentur für Arbeit sollte verpflichtet sein, nicht nur die tatsächlichen Verhältnisse im Betrieb umfassend von Amts wegen zu ermitteln, sondern auch die angezeigten Daten iS des § 80 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF in rechtlicher Hinsicht zu prüfen (BT-Drucks 14/5531 S 10; vgl ferner BT-Drucks 14/5800 S 30). Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber der Bundesagentur für Arbeit also eine "umfassende Prüfungskompetenz" eingeräumt, die die Grundlage für den Erlass eines Verwaltungsakts "mit einer umfassenden Regelungsreichweite hinsichtlich der Vereinbarkeit der Daten für die Berechnung der Zahl der Arbeitsplätze mit der Tatsachen-, aber auch der Gesetzeslage" bildet (so schon BVerwG vom 14.4.2021 - 5 C 13.19, NVwZ-RR 2021, 897 RdNr 17).
Ausgehend hiervon hat die Agentur für Arbeit in einem ersten Schritt die tatsächlichen Verhältnisse im Betrieb unter Heranziehung der angezeigten Daten und des beigefügten Verzeichnisses zu prüfen. Sollte sie zu dem Ergebnis gelangen, dass die Daten von dem Arbeitgeber im Tatsächlichen nicht richtig oder nicht vollständig angezeigt wurden, hat sie die Verhältnisse im Betrieb, in der Regel unter Heranziehung des Arbeitgebers, umfassend selbst zu ermitteln (vgl BSG vom 6.5.1994 - 7 RAr 68/93 - BSGE 74, 176, 181 f = SozR 3-3870 § 13 Nr 2 S 7 f - juris RdNr 28 f zu § 13 SchwbG in der Fassung vom 26.8.1986, BGBl I 1421).
Bei einer rechtlichen Fehlbewertung des Arbeitgebers ist die Agentur für Arbeit im Sinne eines aus § 101 Abs 1 SGB IX aF (heute § 184 Abs 1 SGB IX) folgenden Gesetzesbefehls gehalten, in ihrem Aufgabenbereich eng mit dem Arbeitgeber zusammenzuarbeiten, ihn bei der Erfüllung der ihm obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen zu unterstützen und auf deren größtmögliche Verwirklichung hinzuwirken (vgl Beyer in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6. Aufl 2022, § 184 RdNr 2; Pahlen in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl 2020, § 184 RdNr 7; Simon in jurisPK-SGB IX, § 184 RdNr 9, Stand 15.1.2018). Sie hat dementsprechend ihrer Sphäre zugeordnete Verfahrensweisen einer rechtlich zulässigen "Berichtigung" von Amts wegen zu veranlassen. Dies gilt auch, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Zulassung der Anrechnung eines Arbeitnehmers nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF vorliegen, diese Anrechnung mangels einer formellen Entscheidung der Agentur für Arbeit jedoch (noch) nicht zugelassen wurde. Denn ist die Anrechnung zuzulassen, sind die Pflichtarbeitsplätze entsprechend der angezeigten Daten und dem eingereichten Verzeichnis insoweit richtig - bzw "berichtigt" - besetzt und es bedarf nicht des Erlasses eines Feststellungsbescheids nach § 80 Abs 3 SGB IX aF. Ebenso liegt dann auch eine Verletzung der bußgeldbewehrten Anzeigepflicht und der Pflicht zum ordnungsgemäßen Führen eines Verzeichnisses des Arbeitgebers (vgl § 156 Abs 1 Nr 2 und 3 SGB IX aF; heute § 238 Abs 1 Nr 2 und 3 SGB IX) nicht vor.
Ein obligatorisches Antragserfordernis (§ 18 Satz 2 Nr 2 SGB X) auf Durchführung des Zulassungsverfahrens nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF ist im 2. Kapitel des Schwerbehindertenrechts hingegen nicht normiert (vgl Schaumberg in Knittel, SGB IX, § 158 RdNr 10, Stand 1.10.2018; aA Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl 2020, § 158 RdNr 13; Jabben in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK-SozR, § 158 SGB IX RdNr 6, Stand 1.9.2020; Ritz in Fuchs/Ritz/Rosenow, SGB IX, 7. Aufl 2021, § 158 RdNr 4). Dies schließt nicht aus, dass die Agentur für Arbeit auf Antrag des Arbeitgebers tätig werden muss (§ 18 Satz 2 Nr 1 Alt 2 SGB X), worauf es hier jedoch nicht ankommt. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die Klägerin die - aus ihrer Sicht - notwendigen Daten, unter Beifügung des Verzeichnisses, innerhalb der Frist des § 80 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF bei der Beklagten angezeigt. Sodann musste die Beklagte in das sich hieran anschließende Prüfverfahren übergehen und von Amts wegen über die Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen entscheiden.
Die Zulassung der Anrechnung eines teilzeitbeschäftigten schwerbehinderten Menschen nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF auf einen Pflichtarbeitsplatz hat bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen auch rückwirkend für das der Anzeige des Arbeitgebers vorausgegangene Kalenderjahr zu erfolgen.
Die grundsätzliche Rückwirkung der Zulassungsentscheidung (sog innere Wirksamkeit eines Verwaltungsakts; vgl BSG vom 25.5.2018 - B 13 R 33/15 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 4 RdNr 15) kraft Gesetzes auf den Beginn des der Anzeige vorausgegangenen Kalenderjahrs - bzw den Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, sollte dieses später begründet worden sein - folgt aus dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht (§ 71 Abs 1 SGB IX aF; heute § 154 Abs 1 SGB IX) und der Ausgleichsabgabe (§ 77 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX aF; heute § 160 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX). Beide Normen bilden das "Kernstück" des Schwerbehindertenrechts (BVerfG vom 26.5.1981 - 1 BvL 56/78 ua - BVerfGE 57, 139, 153 - juris RdNr 54). Sie dienen der Sicherung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen in Arbeit, Beruf und zugleich auch in die Gesellschaft (BT-Drucks 7/656 S 1, 23; zur Historie des Schwerbehindertenrechts BT-Drucks 7/1515 S 5 f). Arbeitgeber sollen veranlasst werden, behindertengerechte Arbeitsplätze zu schaffen und gezielt nach Bewerbern zu suchen (BVerfG ≪Kammer≫ vom 1.10.2004 - 1 BvR 2221/03 - BVerfGK 4, 78, 81 - juris RdNr 12). Die Beschäftigungspflicht als umfassende und unbedingte Rechtspflicht wird flankiert durch die Ausgleichsabgabe. Solange Arbeitgeber die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, entrichten sie für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe (§ 77 Abs 1 Satz 1 SGB IX aF), wodurch die Beschäftigungspflicht nicht aufgehoben wird (§ 77 Abs 1 Satz 2 SGB IX aF). Die als Sonderabgabe ausgestaltete Ausgleichsabgabe erfüllt eine Doppelfunktion (hierzu BT-Drucks 7/656 S 20; BVerfG vom 26.5.1981 - 1 BvL 56/78 ua - BVerfGE 57, 139, 166, 167 - juris RdNr 94, 100). Zum einen sollen Arbeitgeber angehalten werden, schwerbehinderte Menschen einzustellen (Antriebsfunktion). Zum anderen sollen Belastungen zwischen denjenigen Arbeitgebern, die der Beschäftigungspflicht genügen und denjenigen, die diese Verpflichtung nicht erfüllen, ausgeglichen werden (Ausgleichsfunktion).
Beschäftigt ein Arbeitgeber tatsächlich einen schwerbehinderten Menschen, der auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 71 Abs 1 SGB IX aF anzurechnen ist, genügt er insoweit der Regelungsintention der Pflichtarbeitsplatzquote (Antriebsfunktion) und der der Ausgleichsabgabe immanenten Ausgleichsfunktion. Dies gilt auch dann, wenn in der Person des schwerbehinderten Arbeitnehmers die materiell-rechtlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF vorliegen und die Agentur für Arbeit zwar die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz formell (noch) nicht zugelassen hat, aber aufgrund der angezeigten Daten - oder weil sie auf andere Art und Weise Kenntnis hiervon erlangt hat - von Amts wegen verpflichtet ist, hierüber zu entscheiden.
Dem steht nicht entgegen, dass im 1. Kapitel des Schwerbehindertenrechts mit Art 2 Nr 2 Buchst b des BTHG vom 23.12.2016(BGBl I 3234) zum 30.12.2016 die Möglichkeit der Feststellung des Vorliegens eines Grads der Behinderung oder gesundheitlicher Merkmale zu einem früheren Zeitpunkt (klarstellend) normiert und diese Rückwirkung an weitere Tatbestandsmerkmale - Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses - geknüpft wurde (§ 69 Abs 1 Satz 2 SGB IX aF; heute § 152 Abs 1 Satz 2 SGB IX). Eine dementsprechende einschränkende Auslegung des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF ergibt sich weder aus den gesetzlichen Regelungen des 2. Kapitels des Schwerbehindertenrechts noch aus den Gesetzesmaterialien.
Nach alledem war die Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 vorzunehmen. Die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz ist danach zuzulassen, wenn die Teilzeitbeschäftigung wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn die geschuldete Arbeitsleistung aufgrund der Behinderung nicht mehr im vollen zeitlichen Umfang erfüllt werden kann, etwa weil der schwerbehinderte Arbeitnehmer wegen körperlicher Defizite, Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten oder des Vorliegens psychischer Gesundheitsstörungen Schwierigkeiten bei der Ausübung der Tätigkeit oder beim Erreichen des Arbeitsplatzes hat (vgl Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl 2020, § 164 RdNr 70; Spiolek in Spiolek, GK-SGB IX, § 164 RdNr 435 ff, Stand Mai 2018; Schaumberg in Knittel, SGB IX, § 164 RdNr 312, Stand 1.12.2018). Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) erfüllte die Arbeitnehmerin die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF. Ihre Teilzeitbeschäftigung mit einem Umfang von weniger als 18 Stunden wöchentlich war nach Art und Schwere ihrer Behinderung im Kalenderjahr 2013 notwendig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwerts von 755 Euro für alle Rechtszüge folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1 und Abs 3 Satz 1 Nr 2, § 52 Abs 1 und § 47 Abs 1 Satz 1 GKG. Grundlage der Festsetzung der Ausgleichsabgabe von 690 Euro für das Erhebungsjahr 2013 nebst Säumniszuschlägen von 65 Euro war die Ablehnung der Zulassung der Anrechnung durch die verfahrensgegenständlichen Bescheide (zur werterhöhenden Berücksichtigung der Säumniszuschläge BSG vom 10.6.2010 - B 2 U 4/10 B - SozR 4-1920 § 43 Nr 1). Die Höhe des Gebührenstreitwerts ist nicht durch den vom SG festgesetzten Streitwert - dort 690 Euro - nach § 47 Abs 2 GKG beschränkt. Maßgeblich ist die Höhe des objektiv angemessenen Streitwerts (BSG vom 19.9.2006 - B 6 KA 30/06 B - juris RdNr 5).
Meßling Burkiczak B. Schmidt
Fundstellen
NZA 2022, 1520 |
NZS 2023, 941 |
SGb 2022, 361 |
br 2023, 16 |
FSt 2023, 459 |