Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang des der Hauptfürsorgestelle in § 19 Abs. 2 SchwbG eingeräumten Ermessens; Aufklärungspflicht der Hauptfürsorgestelle
Orientierungssatz
1. § 19 Abs. 2 SchwbG ist ebenso wie § 21 Abs. 4 SchwbG als „Soll”-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne ausgestaltet, was beinhaltet, daß im Regelfall das „Soll” ein „Muß” bedeutet (vgl. BVerwGE 90, 275 (278) m.w.N.). Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf die Behörde anders verfahren als im Gesetz vorgesehen und den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Das der Hauptfürsorgestelle danach verbleibende „Restermessen” ist davon abhängig, daß der Kündigungssachverhalt Besonderheiten zugunsten des Schwerbehinderten aufweist, die eine Verweigerung der Zustimmung ausnahmsweise rechtfertigen können.
2. Die Aufklärungspflicht der Hauptfürsorgestelle, die ihre Rechtsgrundlage in § 20 SGB X findet, gewinnt ihre Konturen und ihre Reichweite aus dem materiellen Recht (BVerwGE 90, 287 (294)): Nach der hier einschlägigen materiellrechtlichen Soll-Vorschrift in § 19 Abs. 2 SchwbG ist die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen, wenn nach den Ermittlungen der Hauptfürsorgestelle dem Schwerbehinderten ein anderer angemessener und zumutbarer Arbeitsplatz gesichert ist und zur Überzeugung der Hauptfürsorgestelle feststeht, daß ein atypischer Fall, über den nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist, nicht vorliegt. Welche Umstände im Rahmen von § 19 Abs. 2 SchwbG einen atypischen Fall begründen können und welche Umstände ggf. bei einer Ermessensentscheidung für die jeweils gegensätzlichen Interessen des Schwerbehinderten einerseits und des Arbeitgebers andererseits mit welchem Gewicht maßgeblich sind, läßt sich nicht allgemein bestimmen. Insoweit entscheiden deshalb die Umstände des Einzelfalls.
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Entscheidung vom 25.03.1994; Aktenzeichen Bf I 93/92) |
Gründe
Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die vom Kläger geltend gemachten Gründe rechtfertigen eine Zulassung der Revision nicht.
Entgegen der Annahme des Klägers kann die Revision nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur, wenn zu erwarten ist, daß die Entscheidung im künftigen Revisionsverfahren dazu dienen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Auf die Frage, ob und in welcher Beziehung von der Revision ein solcher Erfolg zu erwarten ist, muß im Rahmen der Darlegungspflicht nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO wenigstens durch die Bezeichnung der konkreten Rechtsfrage, die sowohl für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Revisionsverfahren erheblich sein wird, eingegangen werden (vgl. BVerwGE 13, 90 (91)).
Es ist schon zweifelhaft, ob die Beschwerdeschrift, soweit sie sich gegen die Auslegung des § 19 Abs. 2 SchwbG durch die Vorinstanz wendet, diesen Darlegungserfordernissen entspricht. Denn der Kläger formuliert insoweit keine Rechtsfrage im vorgenannten Sinne, sondern beschränkt sich im wesentlichen darauf, seine von der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts abweichende Ansicht zur Auslegung von § 19 Abs. 2 SchwbG darzulegen. So meint er, daß die Hauptfürsorgestelle im Falle des § 19 Abs. 2 SchwbG das Vorhandensein eines anderen angemessenen und zumutbaren Arbeitsplatzes und die Gegenargumente des Arbeitnehmers gegen eine Änderungskündigung umfassend zu prüfen habe. Der Kläger führt ferner aus, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache folge daraus, „daß die Weite der Einschränkung der Ermessensentscheidung mitzuteilen ist”. Ebenso wie für § 15 SchwbG gelte auch für § 19 Abs. 2 SchwbG, daß die Zustimmung zur Kündigung nicht als „Automatismus” erteilt werden dürfe; vielmehr sei von einer grundsätzlichen Verweigerung der Zustimmung auszugehen. Nur dann, wenn besondere Umstände es geböten, sei eine Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu erteilen. Gegen eine ausdrückliche Erklärung des Schwerbehinderten sei die Zustimmung nur dann zu erteilen, „wenn die Verweigerung des Schwerbehinderten willkürlich ist”.
Die darin liegende Darstellung der eigenen, von der Beklagten und den Vorinstanzen nicht geteilten Rechtsansicht des Klägers vermag seiner Rechtssache ebensowenig grundsätzliche Bedeutung zu verleihen, wie es die mit der Beschwerde vorgebrachten Rügen können, das Berufungsgericht habe § 19 Abs. 2 SchwbG in seinem Fall unrichtig angewendet. Die Revision wäre aber nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auch dann nicht zuzulassen, wenn die Beschwerde des Klägers dahin zu verstehen sein sollte, daß er sinngemäß die Frage nach dem Umfang des der Hauptfürsorgestelle in § 19 Abs. 2 SchwbG eingeräumten Ermessens und der damit verbundenen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung für höchstrichterlich klärungsbedürftig hielte. Denn diese Frage ist, soweit sie sich überhaupt in verallgemeinerungsfähiger Weise klären läßt, auf der Grundlage der gesetzlichen Vorschriften und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres zu beantworten.
§ 19 Abs. 2 SchwbG ist ebenso wie § 21 Abs. 4 SchwbG als „Soll”- Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne ausgestaltet. Wie der beschließende Senat bereits zu § 21 Abs. 4 SchwbG ausgeführt hat (BVerwGE 90, 275 (278) m.w.N.), sind derartige Normen im Regelfall für die mit ihrer Durchführung betraute Behörde rechtlich zwingend und verpflichten sie, grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist. Im Regelfall bedeutet das „Soll” ein „Muß”. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf die Behörde anders verfahren als im Gesetz vorgesehen und den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Das gilt auch für § 19 Abs. 2 SchwbG. Das der Hauptfürsorgestelle danach verbleibende „Restermessen” ist davon abhängig, daß der Kündigungssachverhalt Besonderheiten zugunsten des Schwerbehinderten aufweist, die eine Verweigerung der Zustimmung ausnahmsweise rechtfertigen können (vgl. auch BVerwGE 90, 275 (277)). Für weiterreichende Beschränkungen des behördlichen Ermessens, wie sie der Kläger in seiner Beschwerde anführt („Gegen eine ausdrückliche Erklärung des Schwerbehinderten ist die Zustimmung nur dann zu erteilen, wenn die Verweigerung des Schwerbehinderten willkürlich ist.”), ist bei dieser Rechtslage kein Raum.
Soweit der Kläger auch geklärt wissen möchte, in welchem Umfang § 19 Abs. 2 SchwbG die Ermittlung von (aus der Sicht des Schwerbehinderten) „entlastenden und belastenden Umständen” vor Erteilung der Zustimmung zur Kündigung verlangt, besteht ebenfalls kein höchstrichterlicher Klärungsbedarf. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, daß die Aufklärungspflicht der Hauptfürsorgestelle, die ihre Rechtsgrundlage in § 20 SGB X findet, ihre Konturen und ihre Reichweite aus dem materiellen Recht gewinnt (BVerwGE 90, 287 (294)). Nach der hier einschlägigen materiellrechtlichen Soll-Vorschrift in § 19 Abs. 2 SchwbG ist die Zustimmung zur Kündigung, wie ausgeführt, zu erteilen, wenn nach den Ermittlungen der Hauptfürsorgestelle dem Schwerbehinderten ein anderer angemessener und zumutbarer Arbeitsplatz gesichert ist und zur Überzeugung der Hauptfürsorgestelle feststeht, daß ein atypischer Fall, über den nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist, nicht vorliegt. Welche Umstände im Rahmen von § 19 Abs. 2 SchwbG einen atypischen Fall begründen können und welche Umstände ggf. bei einer Ermessensentscheidung für die jeweils gegensätzlichen Interessen des Schwerbehinderten einerseits und des Arbeitgebers andererseits mit welchem Gewicht maßgeblich sind, läßt sich nicht allgemein bestimmen. Insoweit entscheiden deshalb die Umstände des Einzelfalls (vgl. auch zu § 15 SchwbG Senatsbeschluß vom 6. Februar 1995 - BVerwG 5 B 75.94 -).
Eine grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache schließlich auch nicht deshalb, weil der Kläger die Frage für klärungsbedürftig hält, „ob in jedem Verfahren auf Erklärung einer Zustimmung eine gesonderte und neuere Stellungnahme des Arbeitsamtes im Sinne des § 17 Abs. II Schwerbehindertengesetz einzuholen ist”, also auch dann, wenn nach Einholung einer Stellungnahme im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zustimmung zu einer auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichteten ordentlichen Kündigung von der Hauptfürsorgestelle auch über die nachträglich hilfsweise beantragte Zustimmung zu einer das Arbeitsverhältnis des Schwerbehinderten betreffenden Änderungskündigung entschieden werden muß. Denn die Antwort darauf läßt sich ohne weiteres Sinn und Zweck des § 17 Abs. 2 Satz 1 SchwbG in Verbindung mit der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entnehmen.
Wie das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 8. Februar 1967 - BVerwG 5 C 167.65 - (BVerwGE 26, 145 (147)) entschieden hat, ist die Stellungnahme des Arbeitsamtes hauptsächlich in dem Sinne für die Willensbildung der Hauptfürsorgestelle entscheidend, als ihr dadurch die für ihre Entscheidung erforderliche Kenntnis der Lage auf dem Arbeitsmarkt vermittelt wird und als sie dadurch die Ansicht des Arbeitsamtes über die Vermittlungsfähigkeit des Schwerbeschädigten erfährt. Diese Entscheidung ist zwar noch zu § 16 Abs. 2 des Schwerbeschädigtengesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 14. August 1961 (BGBl I S. 1233) ergangen; für § 17 Abs. 2 Satz 1 SchwbG 1986 gilt jedoch nichts anderes. Die Hauptfürsorgestelle der Beklagten hat zum Antrag der Beigeladenen vom 26. März (2. April) 1991, der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zuzustimmen, eine Stellungnahme des Arbeitsamtes eingeholt, die dieses unter dem 30. April 1991, bei der Hauptfürsorgestelle eingegangen am 7. Mai 1991, abgegeben hat. Angesichts dieser Stellungnahme entfiel die Notwendigkeit, aus Anlaß des am 31. Mai 1991 hilfsweise gestellten Antrages der Beigeladenen, der Änderungskündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zuzustimmen, das Arbeitsamt erneut zu bitten, sich aus arbeitsmarktpolitischer Sicht zu den Vermittlungsmöglichkeiten für den Kläger zu äußern. Die (ungünstigen) Vermittlungsaussichten für den Kläger waren der Hauptfürsorgestelle zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Es wäre ein nach Sinn und Zweck von § 17 Abs. 2 Satz 1 SchwbG nicht zu rechtfertigender Formalismus, wollte man die Hauptfürsorgestelle der Beklagten gleichwohl für verpflichtet halten, im Hinblick auf die – im zeitlichen und funktionalen Zusammenhang mit dem Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Beendigungskündigung – beantragte Zustimmung zur Änderungskündigung erneut an das Arbeitsamt heranzutreten. Das gilt um so mehr, als die Hauptfürsorgestelle mit Bescheiden vom selben Tage (20. Juni 1991) die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers versagt und die Zustimmung zur Änderungskündigung erteilt hat.
Soweit der Kläger weiterhin rügt, daß ihm der Widerspruchsausschuß der Beklagten keine Möglichkeit der Stellungnahme zu dem Schriftsatz der Beigeladenen vom 24. Oktober 1991 gegeben habe, bleibt die Beschwerde erfolglos, weil sie keinen Verfahrensmangel geltend macht, auf dem die Entscheidung des Berufungsgerichts beruhen kann (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Denn beanstandet wird insoweit nicht das gerichtliche Verfahren vor dem Berufungsgericht, sondern das Verhalten des Widerspruchsausschusses im vorgerichtlichen behördlichen Verfahren. Auf Mängel eines derartigen Verfahrens bezieht sich § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aber nicht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21. Februar 1964 - BVerwG 6 C 20.63 - (Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 27), vom 13. September 1973 - BVerwG 2 B 45.73 - (Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 114 S. 64) und vom 3. Oktober 1979 - BVerwG 2 B 93.78 - (Abdruck S. 7 f.; Leitsatz auch in Buchholz 237.1 Art. 42 BayBG Nr. 3)).
Ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führt das Beschwerdevorbringen des Klägers, die Hauptfürsorgestelle der Beklagten habe entgegen § 17 Abs. 2 SchwbG keine Stellungnahme des Arbeitsamtes zu der von der Beigeladenen beabsichtigten Änderungskündigung eingeholt, so daß es an der Mitwirkung des Arbeitsamtes gefehlt habe. Abgesehen davon, daß das Vorgehen der Hauptfürsorgestelle, wie schon ausgeführt, nicht zu beanstanden ist, ist mit diesem Vorbringen wiederum nicht das gerichtliche Verfahren angesprochen und damit die Annahme eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO schon begrifflich ausgeschlossen.
Fundstellen
Haufe-Index 60563 |
Buchholz 436.61 § 19 SchwbG, Nr 1 (ST) |
RzK IV 8a, Nr 38 (S) |