Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerfreie Einkünfte unter Progressionsvorbehalt, Besteuerung von Einkünften in Deutschland, die von einer französischen Behörde gewährt werden
Leitsatz (amtlich)
Art. 39 EG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift wie § 3 Nr. 64 des Einkommensteuergesetzes nicht entgegensteht, wonach Zulagen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen, die einem Beamten eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet, zum Ausgleich des Kaufkraftverlusts am Dienstort gewährt werden, bei der Bestimmung des auf andere Einkünfte des Steuerpflichtigen oder seines Ehegatten in dem ersten Mitgliedstaat anwendbaren Steuersatzes unberücksichtigt bleiben, während vergleichbare Zulagen, die einem Beamten dieses anderen Mitgliedstaats gewährt werden, der im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats arbeitet, bei der Bestimmung dieses Steuersatzes berücksichtigt werden.
Normenkette
EGVtr Art. 39
Beteiligte
Schulz-Delzers und Schulz |
Cathy Schulz-Delzers, Pascal Schulz |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Freizügigkeit ‐ Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft ‐ Einkommensteuer ‐ Berücksichtigung von Auslandszulagen durch Anwendung eines progressiven Steuertarifs bei der Berechnung eines auf andere Einkünfte anwendbaren Steuersatzes ‐ Berücksichtigung von Zulagen, die Beamten eines anderen Mitgliedstaats gewährt werden, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben ‐ Nichtberücksichtigung von Zulagen, die nationalen Beamten gewährt werden, die ihre Tätigkeit im Ausland ausüben ‐ Vergleichbarkeit“
In der Rechtssache C-240/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 2010, in dem Verfahren
Cathy Schulz-Delzers,
Pascal Schulz
gegen
Finanzamt Stuttgart III
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters K. Schiemann (Berichterstatter), der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von C. Schulz-Delzers und P. Schulz, vertreten durch Rechtsanwalt S. Hoffmann,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 12 EG, 18 EG und 39 EG.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Schulz-Delzers und Herrn Schulz (im Folgenden zusammen: Eheleute Schulz) einerseits sowie dem Finanzamt Stuttgart III (im Folgenden: Finanzamt) andererseits über Einkommensteuerbescheide des Finanzamts für die Jahre 2005 und 2006.
Rechtlicher Rahmen
Einkommensbesteuerung in Deutschland
Rz. 3
Die Einkommensbesteuerung war in Deutschland in den Jahren 2005 und 2006 durch das Einkommensteuergesetz (EStG) in der für diese Jahre geltenden Fassung geregelt.
Rz. 4
Nach § 1 EStG sind u. a. natürliche Personen unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Rz. 5
Der Einkommensteuersatz wird nach einem progressiven Tarif festgelegt, wobei der Steuersatz entsprechend der Höhe der Einkommen ansteigt. Dieser Tarif spiegelt eine Bewertung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen durch den Gesetzgeber auf der Grundlage der Lebensbedingungen in Deutschland wider.
Rz. 6
Bestimmte Einkünfte sind von der Einkommensteuer freigestellt. Dabei wird unterschieden zwischen Einkünften, die zwar nicht selbst besteuert werden, aber bei der Berechnung des auf andere Einkünfte anwendbaren Steuersatzes durch Anwendung des progressiven Steuertarifs berücksichtigt werden, und solchen, die dabei nicht berücksichtigt werden. Erstere werden als steuerfreie Einkünfte unter Progressionsvorbehalt bezeichnet.
Rz. 7
Wenn aufgrund des Progressionsvorbehalts bestimmte steuerfreie Einnahmen bei der Bemessung des auf die übrigen Einnahmen anwendbaren Steuersatzes berücksichtigt werden, bringt dies eine Bewertung des Gesetzgebers hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Betroffenen zum Ausdruck. Ein Steuerpflichtiger, der dem Progressionsvorbehalt unterliegende steuerfreie Einnahmen erzielt, ist nach Ansicht des Gesetzgebers leistungsfähiger als ein Steuerpflichtiger ohne diese Einnahmen. Folglich werden dabei eine Reihe grundsätzlich steuerfreier Lohnersatzleistungen, wie vor allem das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe, berücksichtigt. Diese dienen nämlich nicht dem Ausgleich be...