Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen das Wahlgeheimnis
Leitsatz (amtlich)
Das systematische Öffnen der Wahlumschläge durch den Wahlvorstand und der Abgleich der Stimmzettel mit den schriftlichen Erklärungen der Briefwähler begründet als eklatanter Verstoß gegen den elementaren Wahlgrundsatz der geheimen Wahl die Nichtigkeit der Wahl, auch wenn der Verstoß keine Auswirkungen auf das Wahlergebnis hatte (str.).
Normenkette
SGB IX § 94 Abs. 6; BetrVG § 19; SchwbWO §§ 11-12
Verfahrensgang
ArbG Kassel (Beschluss vom 12.05.2011; Aktenzeichen 3 BV 9/10) |
Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 2) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2011 – 3 BV 9/10 – wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung, die am 29. Okt. 2010 bei der Beteiligten zu 1) stattgefunden hat.
Am 29. Okt. 2010 fand die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung im Wahlbetrieb Nord der Beteiligten zu 1) statt. Der Wahlvorstand hatte gemäß § 11 SchwbV-WO die schriftliche Stimmabgabe angeordnet. Nach Beendigung der Wahl erfolgte die öffentliche Stimmauszählung. Neben den drei Wahlvorstandsmitgliedern waren der Betriebsratsvorsitzende sowie der Wahlbewerber A anwesend oder kamen hinzu. Die Mitglieder des Wahlvorstandes nahmen die Auszählung so vor, dass sie zunächst jeweils den Wahlumschlag mit der schriftlichen Erklärung aus dem Freiumschlag entnahmen und die Unterschrift auf der schriftlichen Erklärung prüften. Sodann wurde die Stimmabgabe in die Wählerliste eingetragen. Danach wurden die Wahlumschläge geöffnet, die Stimmzettel entnommen und neben der schriftlichen Erklärung abgelegt und die Stimme ausgezählt. In dieser Weise wurde mit 12 Wahlumschlägen verfahren. Auf Hinweis des Betriebsratsvorsitzenden und des Herrn A wurde diese Vorgehensweise beendet und in der Folge so verfahren, dass nur noch die nicht geöffneten Wahlumschläge in die Wahlurne gesteckt wurden, ebenso die ausgezählten Stimmzettel aus den bereits geöffneten Wahlumschlägen. Die Beteiligte zu 2) erhielt 37 Stimmen, der unterlegene Kandidat A vier Stimmen.
Mit ihrem am 10. Nov. 2010 beim Arbeitsgericht Kassel eingegangenen Antrag hat die Beteiligte zu 1) die Wahl für nichtig angesehen, weil der Wahlvorstand den Grundsatz der geheimen Wahl eklatant verletzt habe.
Die Beteiligte zu 1) hat beantragt,
die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung der B Wahlbetrieb Nord vom 29. Okt. 2010 für unwirksam zu erklären.
Die Schwerbehindertenvertretung hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Die Schwerbehindertenvertretung hat die Wahl als gültig angesehen. Da die Stimmabgabe beendet gewesen sei, habe eine Missachtung des Wahlgeheimnisses diese nicht mehr beeinflussen können und hätte sich auch nicht auf das Wahlergebnis auswirken können. Selbst wenn 12 Stimmen nicht mitgezählt würden, hätte die Beteiligte zu 2) immer noch einen Vorsprung von 25 zu 4 Stimmen. Keinesfalls sei die Wahl nichtig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Das Arbeitsgericht Kassel hat dem Antrag durch Beschluss vom 12. Mai 2011 – 3 BV 9/10 – stattgegeben. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, die Wahl vom 29. Okt. 2010 sei nichtig. Bei einer demokratischen Wahl könne es nicht hingenommen werden, dass der Wahlvorstand sich die Möglichkeit verschaffe, Einblick in das Wahlverhalten der Wähler zu nehmen. Er habe alles zu unterlassen, was bei den Wählern Anlass zu dem Verdacht geben könne, bei der Wahl sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Das gelte unabhängig davon, ob der Verstoß am Wahlergebnis etwas hätte ändern können. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die arbeitsgerichtlichen Beschlussgründe verwiesen.
Gegen den ihr am 20. Mai 2011 zugestellten Beschluss hat die Schwerbehindertenvertretung am 7. Juni 2011 Beschwerde eingelegt und diese am 24. Juni 2011 begründet.
Die Schwerbehindertenvertretung trägt vor, die Auffassung des Arbeitsgerichts sei völlig unverständlich. Es verkenne, dass ein Wahlberechtigter, bei dessen Stimmabgabe der Grundsatz der geheimen Wahl verletzt worden sei, nicht auch noch wolle, dass seine Stimme nicht zähle. Betrachte man die Fälle, bei denen die Nichtigkeit einer Wahl angenommen worden sei, dann sei der vorliegende Sachverhalt hiervon weit entfernt.
Die Beteiligte zu 2) beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2011 – 3 BV 9/10 – abzuändern und die Anträge der Antragstellerin zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 1) beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 1) verteidigt die angefochtene Entscheidung und geht weiterhin von einem eklatanten Verstoß gegen das Wahlgeheimnis aus, der zur Nichtigkeit der Wahl führen müsse.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdev...