Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Urteil vom 10.06.1986; Aktenzeichen S-8/U-241/73) |
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 1986 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung, er sei als Leibesfrucht durch eine Berufskrankheit (BK) seiner Mutter infolge fortgesetzter Exposition gegenüber Halothan während der Schwangerschaft geschädigt worden (§ 555 a Reichsversicherungsordnung –RVO–).
Der am 15. Mai 1968 geborene Kläger leidet an der schwersten Form eines Schwachsinns verbunden mit einer spastischen Diplegie mäßigeren Ausbildungsgrades, jedoch starker motorischer Unruhe. Seine Mutter war vom 1. Oktober 1967 bis 30. November 1967 als Medizinalassistentin und vom 1. Dezember 1967 bis 31. August 1968 als Assistenzärztin in der gynäkologischen und geburtshilflichen Abteilung des Städtischen Krankenhauses F. beschäftigt. Während dieser Zeit war sie einerseits im Stationsdienst, andererseits im Operationsbereich tätig. Die Tätigkeit dort belief sich laut Auskunft des Städtischen Krankenhauses Frankenthal vom 10. November 1977 an fünf Wochentagen auf schätzungsweise durchschnittlich zwei Stunden, nach Angaben der Mutter des Klägers auf die Hälfte der Arbeitszeit. Im Operationsbereich bestand ihre hauptsächliche Aufgabe in der Durchführung von Narkosen. Laut Narkosebuch führte sie in der Zeit vom 1. Oktober 1967 bis 7. August 1968 insgesamt 122 Narkosen durch, wobei mindestens 79 auf Maskenanwendungen und 43 auf Intubationsnarkosen entfielen. Bis zur Geburt des Klägers sind im Narkosebuch 110 Anästhesien vermerkt. Als Inhalationsanästhetika wurden Halothan und Stickoxidul (Lachgas) verwendet. Die Narkosen wurden mittels eines Dräger – Narkosegeräts im halboffenen oder halbgeschlossenen System durchgeführt. Während der Operation blieb das vorhandene Fenster geschlossen. Weitere Einrichtungen zur Belüftung und Klimatisierung oder Schutzmaßnahmen zur Verringerung der Raumluftkontamination durch überschüssiges Narkosegas (z.B. Aktivkohlefilter) waren in dem 25 bis 30 m² großen, inzwischen abgerissenen Operationsraum offensichtlich nicht vorhanden.
Zu Beginn ihrer ärztlichen Tätigkeit im Städtischen Krankenhaus F. am 1. Oktober 1967 befand sich die Mutter des Klägers ihren Angaben zufolge (Schreiben vom 6. Juli 1983) in der 6. Schwangerschaftswoche. Bis zum Tag der Entbindung am 15. Mai 1968 führte sie Anästhesien durch. Die Geburt, die nach Angaben der Mutter des Klägers 17 Tage vor dem errechneten Termin erfolgte, verlief komplikationslos. Der Kläger wog 2.800 g, war 48 cm groß und hatte einen Kopfumfang von 38 cm. Die Reifezeichen waren vorhanden. Er fiel Mutter und Säuglingsschwestern durch schrilles Schreien und extreme Unruhe auf. Im Verlaufe des ersten Lebensjahres wurde ein Entwicklungsrückstand erkennbar, so daß eine Vorstellung in der Universitätskinderklinik Frankfurt am Main erfolgte. Weitere Untersuchungen fanden in Kinderneurologischen Zentren wie z.B. Mainz und Frankfurt am Main, statt. Bei einer im Jahre 1978 durchgeführten computertomographischen Untersuchung wurde ein Cerebralschaden (Hydrocephalus internus, Hirnatrophie) bei mit 53 cm an der unteren Normgrenze liegendem Kopfumfang festgestellt. Die nach Abbruch der Fachausbildung der Mutter im Anschluß an die Geburt des Klägers später am 19. Oktober 1971 und 14. Dezember 1976 geborenen Geschwister des Klägers waren bei der Geburt schwerer und größer (3500/3700 g, 52 cm) und im übrigen gesund.
Den vor Einführung des § 555 a RVO im Jahre 1973 gestellten Entschädigungsantrag lehnte der Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme des Landesgewerbearztes durch Bescheid vom 24. Mai 1973 mit der Begründung ab, daß das ungeborene Kind in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht versichert und nachträglich auch weder der Nachweis einer Schädigung der Mutter noch des Kindes zu erbringen sei.
Dagegen hat der Kläger am 20. Juni 1973 beim Sozialgericht (SG) Frankfurt am Main Klage erhoben. Dieses hat das humangenetische Gutachten vom 18. Dezember 1978 des Prof. Dr. S. Institut für Humangenetik der Universitätskliniken Frankfurt am Main, eingeholt, dem der Kläger seit dem 15. Februar 1971 bekannt war. Der Sachverständige verwies darauf, daß der Schwachsinn auch hinsichtlich seiner Ursachen ein sehr heterogenes Krankheitsbild darstelle. Beim Kläger erlaubten auch die Hirnuntersuchungen keine stichhaltigen Aussagen zur Ursache seiner schweren geistigen und motorischen Entwicklungsverzögerung. Theoretisch kämen ausschließlich exogene Faktoren (Infektion, Gifte oder Strahlenschäden) während der Schwangerschaft, unter und nach Geburt des Kindes oder genetische Faktoren in Betracht. Für eine monogen bedingte Erbkrankheit, d.h. einen durch ein einziges mutiertes Gen (Erbanlage) verursachten D...