Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Rentenabfindung gem § 78 Abs 1 S 1 SGB 7. fester Abfindungszeitraum gem § 79 SGB 7. Ermessensentscheidung des Unfallversicherungsträgers. Ermessensabwägung. Interesse der Beitragszahler. ausreichende Lebenserwartung des Versicherten. Prognose. durchschnittliche Lebenserwartung. Nachweis: keine Gewissheit oder hohe Wahrscheinlichkeit des Todes vor Ablauf des Zehnjahreszeitraums. 82 Jahre alter Versicherter
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Rentenabfindung erfolgt nach § 79 SGB 7 zwingend für die Dauer von zehn Jahren.
2. Der Unfallversicherungsträger hat im Rahmen des von ihm auszuübenden pflichtgemäßen Ermessens bei einer Rentenabfindung nach § 78 SGB 7 auch die Interessen seiner Beitragszahler zu wahren.
3. Die Ermessenserwägungen sind daher auch darauf zu erstrecken, ob der Antragsteller eine im Hinblick auf den Abfindungszeitraum von zehn Jahren ausreichende Lebenserwartung hat.
4. Bei der Prognose hinsichtlich der Lebenserwartung ist zu prüfen, ob nach dem konkreten Gesundheitszustand des Antragstellers die ernst zu nehmende Gefahr besteht, dass der Tod vor Ablauf von zehn Jahren eintreten kann.
5. Bei betagten Versicherten können für die Prognose auch die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Periodensterbetafeln zur durchschnittlichen Lebenserwartung herangezogen werden.
6. Eine Gewissheit oder hohe Wahrscheinlichkeit des Todes vor Ablauf des Zehnjahreszeitraums ist bei der Prognose nicht zu fordern.
Orientierungssatz
Bei der Abfindung iS des § 79 SGB 7 handelt es sich nicht um eine Kapitalabfindung, sondern um eine teilweise und zeitliche beschränkte Rentenkapitalisierung, also um eine Rentenvorauszahlung für zehn Jahre.
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Mai 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Abfindung einer Rente.
Der 1932 geborene Kläger hatte am 8. Juli 2001 einen Arbeitsunfall mit Unfallfolgen an der rechten Hand (Gebrauchsunfähigkeit nach Morbus Sudeck) erlitten. Die Beklagte bewilligte dem Kläger zunächst Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 40 v. H. (Bescheid vom 30. April 2003) und sodann mit Bescheid vom 26. Mai 2004 Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v. H. (jährliche Rente = 10.133,15 €). Auf Antrag des Klägers fand die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juli 2004 diese Rente des Klägers bis zur Hälfte für zehn Jahre ab. In medizinischer Hinsicht hatte die Beklagte zuvor bei dem Internisten Dr. F. ein ärztliches Gutachten eingeholt, aus dem sich eine normale (keine herabgesetzte) Lebenserwartung ergab. Als Risikofaktoren hatte der Sachverständige Übergewicht, leichte Aorteninsuffizienz und Grenzwerthypertonie genannt (Gutachten vom 28. Mai 2004).
Während des Abfindungszeitraums bis Juli 2014 beantragte der Kläger dreimal die Vorauszahlung des nicht abgefundenen Teils seiner Rente, welches die Beklagte ihm jeweils für ein Jahr mit Bescheiden vom 31. Mai 2010, vom 5. August 2011 und vom 14. August 2013 auf der Grundlage des § 96 Abs. 2 Sozilagesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII bewilligte. Als Grund für den Wunsch der Vorauszahlungen gab der Kläger finanzielle Engpässe an im Zusammenhang mit der Abwicklung seines Betriebs, zur Befriedigung von Forderungen des Finanzamtes und bis zur endgültigen Abwicklung des Verkaufs seines Hauses. Bei seinem letzten Antrag auf Vorauszahlung teilte er mit, er benötige ca. 3.000,00 €.
Mit Schreiben vom 19. März 2014 beantragte der Kläger eine erneute Abfindung seiner Rente. Er machte geltend, er sei privat finanzielle Verpflichtungen eingegangen, habe sich 10.000,00 € geliehen, habe Verpflichtungen aus einer Öllieferung und gegenüber einem Hausgutachter, die er aus der Abfindungssumme befriedigen wolle.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. April 2014 eine erneute Rentenabfindung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass unter Berücksichtigung des Geburtsjahrgangs (1932) des Klägers und seines bisher erreichten Lebensalters nach der aktuellen Generationensterbetafel die Gewährung einer Abfindung nach pflichtgemäßem Ermessen nicht möglich sei. Hierbei habe die Beklagte das „wohlverstandene" Interesse des Klägers mit den Interessen der Allgemeinheit abgewogen. Schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit seien insbesondere dann betroffen, wenn die Gefahr bestehe, dass der Antragsteller vor Ablauf von 10 Jahren versterbe.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Dieser wurde durch seine damalige Bevollmächtigte dahingehend begründet, dass der Kläger sich bei der Beklagten mehrfach erkundigt habe, ob nach Ablauf der ersten Rentenabfindung eine weitere möglich sei, was immer wieder bejaht worden sei. Der Kläger habe seine finanzielle Lebensplanung auch aufgrund dieser Auskünfte vorgenommen. Gesundheitliche Gründe stünde...