Rz. 2
Die Vorschrift beschreibt einen besonderen Fall der gesetzlichen Zurechnung eines zweiten Unfalls als mittelbare Schadensfolge des Erstunfalls. Vorausgesetzt wird allerdings, dass der Zweitunfall bei den im Einzelnen aufgezählten Verrichtungen eingetreten ist (vgl. Rapp, in: LPK-SGB VII, § 11 Rz. 2; Schmitt, SGB VII, § 11 Rz. 3). Die Zurechnung zum ersten Versicherungsfall hat 2 wichtige Rechtsfolgen (vgl. ebenso: Mehrtens, in: Bereiter/Hahn, SGB VII, § 11 Rz. 3; Kater, in: Kater/Leube, SGB VII, § 11 Rz. 4; Schwerdtfeger, in: Lauterbach, SGB VII, § 11 Rz. 3):
1. |
Für die Entschädigung des zweiten Unfalls bleibt der Unfallversicherungsträger des Erstunfalls zuständig. |
2. |
Der Jahresarbeitsverdienst, der für den ersten Unfall maßgeblich ist, bleibt auch weiterhin die Berechnungsgrundlage der Versicherungsleistungen (vgl. BSG, Urteil v. 13.7.1978, 8 RU 84/77), sogar wenn der Verunglückte im Zeitpunkt des Zweitunfalls nicht mehr zu den versicherten Personen zählt. |
Ein Versicherter arbeitet als Porzellanmaler (JAV 50.000,00 EUR). Durch einen Arbeitsunfall verliert er den Daumen der rechten Hand, weshalb er nur noch als Maler und Lackierer arbeiten kann (JAV 30.000,00 EUR). Auf dem Weg zur Nachuntersuchung erleidet er einen zweiten Unfall. Als JAV der Verletztenrente werden die 50.000,00 EUR zugrunde gelegt. Dabei bleibt es auch, wenn der Versicherte aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und Altersrente bezieht.
Rz. 3
Die Norm entspricht im Wesentlichen dem bis zum 31.12.1996 geltenden Recht (§ 555 RVO). Der Anwendungsbereich wurde ausgeweitet, § 11 Abs. 1 Nr. 1 3. Variante. Während nach dem bis zum 31.12.1996 geltenden Recht nur mittelbare Schäden nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten geregelt waren, sind nun auch Schäden infolge präventiver Maßnahmen nach § 3 BKV, die der Gefahr des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit entgegenwirken sollen, als mittelbare Folgen des Versicherungsfalls erfasst (Schmitt, SGB VII, § 11 Rz. 1 und 10). Allerdings nur soweit bei diesen Maßnahmen ein Versicherungsfall bereits eingetreten ist (BT-Drs. 13/2204 S. 79 zu § 11). Als Folgeänderung wurde auch die Aufforderung des Unfallversicherungsträgers zur Vorbereitung von Maßnahmen nach § 3 BKV, eine von ihm bezeichnete Stelle aufzusuchen, aufgenommen. Die gesetzliche Neuregelung des § 11 Abs. 2 Satz 2 entspricht der bisherigen Ansicht in der Literatur (die Gleichstellung der Aufforderung einer beauftragten Stelle befürwortend: Gitter, SGb 1982, 221; Benz, BB 1985, 466; offengelassen in: BSG, Urteil v. 12.5.1981, 2 RU 107/79).
Rz. 4
Nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil v. 5.7. 2011, B 2 U 17/10 R) kommt es nicht zwingend darauf an, ob ein Versicherungsfall "objektiv" vorlag oder ein Heilbehandlungsanspruch "wirklich" nach materiellem Recht bestand. Es kommt also nicht notwendig darauf an, dass objektiv, d. h. aus der nachträglichen Sicht eines optimalen Beobachters, die Voraussetzungen eines Versicherungsfalls oder einer Unfallfolge im engeren Sinne wirklich vorlagen. Erforderlich ist nur, dass der Träger die Maßnahmen gegenüber dem Versicherten in der Annahme des Vorliegens oder der Aufklärungsbedürftigkeit des Sachverhalts eines Versicherungsfalls oder einer Unfallfolge im engeren Sinne veranlasst hat. In diesem Sinne muss nur das angenommene, behauptete oder gegebene Unfallereignis (bei einer Berufskrankheit: die Einwirkung) notwendige Bedingung der Durchführung der Untersuchungs- oder der Heilbehandlungsmaßnahme gewesen sein. Es reicht also aus, dass der Träger (durch seine Organe) oder seine Leistungserbringer dem Versicherten den Eindruck vermittelt haben, es solle eine solche Maßnahme des Unfallversicherungsträgers durchgeführt werden, an der er teilnehmen solle. Im Ergebnis reicht der durch einen Verwaltungsakt gesetzte Rechtsschein oder durch Verwaltungshandeln (etwa durch Anordnung einer Untersuchung) erzeugte Anschein aus, die mittelbare Folge sei durch einen Versicherungsfall bedingt. Eine dahingehende irrige Annahme des Versicherten reicht hingegen nicht aus.