Rz. 87
Die in Abs. 3a normierten Regelungen entsprechen der schon zuvor von den Unfallversicherungsträgern geübten Verwaltungspraxis bei der Ermittlung der Einwirkungsvoraussetzungen der jeweiligen BK, auch arbeitstechnische Voraussetzungen genannt. Abs. 3a Satz 1 nimmt auf den Untersuchungsgrundsatz bezug, der in § 20 SGB X normiert ist. Abs. 3a Satz 2 benennt § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X als Ausgangspunkt. Diese Vorschrift verpflichtet den Unfallversicherungsträger, alle entscheidungserheblichen Tatsachen vollständig zu ermitteln. Die Auswahl der Beweismittel erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen des Unfallversicherungsträgers. Die zu Gebote stehenden Beweismittel sind in § 21 Abs. 1 SGB X nicht abschließend normiert. Anders als im Zivil- und Strafprozessrecht gilt im Verwaltungsverfahren nicht der Strengbeweis, sondern der Freibeweis. Der Behörde stehen alle Erkenntnisquellen als Beweismitteln offen. § 21 Abs. 1 Satz 2 SGB X benennt lediglich die "insbesondere" in Betracht kommenden Beweismittel (Auskünfte, Anhörung der Beteiligten, Vernehmung oder Anhörung von Zeugen und Sachverständigen, Beiziehung von Urkunden und Akten sowie die Einnahme des Augenscheins).
Rz. 88
Abs. 3a Satz 2 bis 6 enthält Regelungen, die den in der Praxis bei Berufskrankheiten immer wieder auftretenden besonderen Schwierigkeiten bei der Feststellung von Art und Ausmaß der schädigenden Einwirkungen gerecht werden sollen. Ein Teil der Krankheiten tritt erst nach langjähriger Exposition gegenüber schädigenden Einwirkungen auf. Zwischen dem Expositionsende und dem Krankheitseintritt kann teilweise eine jahrzehntelange Latenzzeit liegen. Die retrospektive Ermittlung der individuellen Verhältnisse an den jeweils betroffenen Arbeitsplätzen der Versicherten ist oftmals nicht mehr möglich, weil der Arbeitsplatz oder das ganze Unternehmen nicht mehr vorhanden ist oder sich die Arbeitsbedingungen oder die Produktionsverhältnisse so verändert haben, dass daraus keine sicheren Rückschlüsse auf frühere Belastungen gezogen werden können (BT-Drs. 19/17586 S. 103).
Rz. 89
Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten erlaubt Abs. 3a Satz 2 auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die der zuständige oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Satz 3 bezieht dies insbesondere auf die Fälle, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist.
Rz. 90
Abs. 3a Satz 4 bis 6 enthält Regelungen zu Verfahrensweisen bei der Durchführung der in Abs. 3a Satz 2 und 3 benannten schwierigen Ermittlungen zur Exposition am Arbeitsplatz. Diese Regelungen entsprechen der bereits zuvor bestehenden Verfahrenspraxis bei verschiedenen Unfallversicherungsträgern. In den bereits bestehenden Gefährdungs- oder Arbeitsplatzkatastern werden Erkenntnisse und Daten über vergleichbare Tätigkeiten zusammengeführt. Die Grundlage dafür bilden Beschreibungen der Versicherten über ihre Arbeitsbedingungen, vorhandene Messdaten an einzelnen Arbeitsplätzen, Untersuchungen früher verwendeter Produkte oder Erkenntnisse aus nachgestellten Arbeitsplätzen. Den Unfallversicherungsträgern wird aufgegeben, Expositionskataster zu erstellen. Durch diese gesetzlichen Regelungen soll Rechtssicherheit mit Blick auf die gesetzlichen Beweis- und Datenschutzanforderungen sowie auf die Duldungspflicht der Unternehmer bei systematischen Erhebungen an Arbeitsplätzen geschaffen werden. Bestehende gesetzliche Aufbewahrungsfristen für die Unternehmer bleiben hierdurch unberührt; neue Aufbewahrungsfristen werden nicht begründet (BT-Drs. 19/17586 S. 103).